Rassistisches Polizieren
Überblick: Durch rassistische Polizeipraktiken wie Racial Profiling und die Ausweisung bestimmter Orte als „kriminalitätsbelastet“ werden rassifizierte und migrantisierte Gruppen systematisch kriminalisiert. Gerichte hinterfragen diese Praktiken nicht und ziehen Vollstreckungsbehörden in der Regel in keiner Weise zur Verantwortung. Stattdessen beobachten wir, wie Richter*innen Polizeizeug*innen volles Vertrauen schenken, selbst wenn deren Aussagen zweifelhaft sind. Außerdem legen Prozessbeobachtungen immer wieder offen, wie die Polizei sich rassifizierten Personen gegenüber gewaltsam oder diskriminierend bei Kontrollen verhält, was oft in unterschiedlicher Weise zu Anzeigen gegen die Betroffenen führt. Dass Polizieren sich unterschiedlich auf verschiedene Bevölkerungsgruppen auswirkt, wird von Gerichten systematisch ausgeblendet. Schließlich basiert deren Legitimitätsanspruch ebenfalls auf der Idee eines vermeintlich neutralen Rechtssystems.
Rassistisches Polizieren ist eine Struktur, keine Reihe von „Einzelfällen“. Um dies zu begreifen, müssen wir uns vor Augen führen, dass eine der Kernaufgaben der Polizei die Aufrechterhaltung und Vollstreckung einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung ist, die rassistische Hierarchien voraussetzt. Wie die Theoretikerin und Aktivistin Ruth Wilson Gilmore es formuliert: „Kapitalismus beruht auf Ungleichheit, und Rassismus schreibt diese fest.“1 In der Gesellschaft, in der wir leben, ist es Aufgabe der Polizei, dieses Gefüge aufrechtzuerhalten, um den reibungslosen Ablauf des Systems zu gewährleisten. Die Polizei leistet „Herrschaftsarbeit,“ was auch bedeutet, dass sie sich differentiell auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auswirkt – also darauf basierend, wie diese innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse positioniert sind.2 Während beispielsweise wohlhabende, weiße Menschen sich im Allgemeinen darauf verlassen können, dass die Polizei für ihren Schutz sorgt, können etwa rassifizierte, mittellos gemachte und migrantisierte Menschen dies nicht. Ihre Kontrolle ist in die Funktionsweise des Systems eingeschrieben. Rassismus ist daher in der gesellschaftlichen Funktion sowie der differentiellen Operationslogik der Polizei verankert.3
Einer der Hauptmechanismen rassistischen Polizierens ist die Praxis des Racial Profiling. Wie die Sozialwissenschaftlerin Vanessa Thompson darlegt, verstoßen anlasslose Personenkontrollen allein aufgrund eines phänotypischen Erscheinungsbildes gegen das Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 GG.), das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sowie gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention und das in der internationalen Anti-Rassismus-Konvention angelegte Verbot der rassistischen Diskriminierung.4 Dennoch gehören diese Praktiken für viele von Rassismus betroffene Menschen zur täglichen Routine. Organisationen wie KOP (Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt) dokumentieren Fälle von Racial Profiling und rassistischen Polizierens seit Jahrzehnten.5 Ein Grund für das Fortbestehen dieser Praktiken ist, dass Polizeigesetze Handlungsspielräume für Racial Profiling eröffnen. So sind verdachts- und anlassunabhängige Kontrollen zum Beispiel in Grenzräumen erlaubt sowie an Orten, die von der Polizei selbst als „kriminalitätsbelastet“ oder „gefährlich“ ausgewiesen werden.6 Auf diese Weise schafft sich die illegale polizeiliche Praxis des Racial Profiling einen Deckmantel der Legitimität.7 In den vergangenen Jahren hat auch das rassistische Konstrukt der sogenannten „Clankriminalität“ verstärkt dazu beigetragen, dass rassifizierte Personengruppen und Geschäfte besonderer Überwachung und Kontrolle ausgesetzt sind.8 Diese Praktiken beeinflussen, wer vor Gericht landet. Rassifizierte und migrantisierte Gruppen werden überproportional poliziert und daher auch überproportional kriminalisiert und bestraft.
Zusätzlich zu diesen strukturellen und systemischen Merkmalen rassistischen Polizierens zeigen Untersuchungen auch, dass rassistische Einstellungen die Polizei in Deutschland auf institutioneller Ebene durchdringen.9 Rassistische Vorurteile beeinflussen, wie individuelle Polizeibeamt*innen ihre Arbeit machen, was zu diskriminierendem Verhalten gegenüber verdächtigten oder geschädigten Personen führt, wenn diese rassifiziert sind. Rassistisches Polizieren reicht zudem weit über die Institution der Polizei hinaus – ein weiterer Punkt, den KOP und dessen Gründer, Biplab Basu, immer wieder betont haben.10 So praktizieren etwa auch Jobcenter-Angestellte, Sicherheitspersonal, Lehrkräfte, Ladendetektiv*innen und andere rassistisches Polizieren, wenn sie durch ihr Vorgehen rassifizierte Personen besonders überwachen, festhalten und sanktionieren.
Praktiken dieser Art werden vor Gericht so gut wie nie in Frage gestellt. Wir beobachten, dass Richter*innen Polizeizeug*innen routinemäßig enormes Vertrauen entgegenbringen – selbst wenn einzelne Polizeizeug*innen offenlegen, dass ihre Aussagen oft wenig vertrauenswürdig sind.11 Richter*innen nehmen Polizeibeamt*innen und Sicherheitspersonal nicht für deren Kontrollmethoden in die Verantwortung, selbst wenn diese suspekt erscheinen.12 Somit geraten der Kontext und der breitere strukturelle Zusammenhang, in dem ein sich Delikt zuträgt oder geahndet wird, aus dem Blickfeld. Wenn beispielsweise also eine Person einer Tat beschuldigt wird, die sich an einem polizeibelasteten Ort zugetragen haben soll, beobachten wir in der Regel, dass Richter*innen nicht versuchen, herauszufinden, ob den Fahndungsmethoden im vorliegenden Fall Racial Profiling zugrunde liegt. Dadurch legitimieren und verfestigen Gerichte die Praxis des „Brennpunkt“-Polizierens sowie die rassistische Logik differentiellen Polizierens, die dieses ermöglicht. Verfahrenstechnische Maßnahmen wie Strafbefehle und beschleunigte Verfahren ohne anwaltliche Vertretung ermöglichen systematisch den ungehinderten Ablauf dieser Praktiken. Außerdem beobachten wir Fälle, in denen die Polizei gewaltvoll gegenüber von Rassismus betroffenen Personen vorgeht oder in anderer Form ihre Macht missbraucht.13 Manche Betroffene entschließen sich dazu, dies während des Prozesses zu thematisieren, wobei sie teilweise auch auf die Unterstützung von aktivistischen Organisationen wie ReachOut zurückgreifen.14
Dass Polizieren sich unterschiedlich auf verschiedene Bevölkerungsgruppen auswirkt, wird von Gerichten systematisch ausgeblendet. Das ist auch dadurch bedingt, dass ihre eigene Legitimation an der Vorstellung von einem angeblich neutralen Rechtssystem hängt. Gleichzeitig befeuern Verurteilungen den weit verbreiteten rassistischen Diskurs um sogenannte „Ausländerkriminalität“. Dieser suggeriert, migrantisierte Menschen würden eher zu Kriminalität neigen als Deutsche (die dabei implizit als weiß rassifiziert werden). Wenn jedoch die strukturellen Umstände, die der disproportionalen Kriminalisierung rassifizierter und migrantisierter Menschen zugrunde liegen, verkannt werden, ist der Zirkelschluss vorprogrammiert: Politiker*innen können sich ihre Arbeit leicht machen, indem sie auf immer mehr und immer härteres Polizieren als vermeintliche Lösung für gesellschaftliche Probleme beharren. Die gefährlichen Konsequenzen davon für von Rassismus betroffene Menschen sind bereits weit im Voraus abzusehen.
In unserem Fallarchiv kennzeichnen wir Fälle als durch rassistisches Polizieren strukturiert, wenn wir dessen differentielle Dynamiken in Verfahren beobachten – zum Beispiel, wenn Polizei, Ladendetektiv*innen oder anderes Sicherheitspersonal scheinbar auf Racial Profiling zurückgreifen; wenn Betroffene rassistischer Polizeigewalt als Aggressor*innen dargestellt und für ihre Widerstandsbemühungen beschuldigt werden; oder wenn die Polizei bei Kontrollen, die zu einer Verhaftung oder einer Anzeige wegen eines anderen Delikts führen, auf gewaltvolle oder diskriminierende Weise gegen rassifizierte Personen vorgeht. Rassistisches Polizieren ist ein zentraler Grund für die Massenkriminalisierung rassifizierter und migrantisierter Menschen.
Quellenangaben
- 1
Ruth Wilson Gilmore im Interview mit Vanessa E. Thompson und Raul Zelik, ‘Abolitionismus bedeutet, internationalistisch zu denken’ (nd, 23.8.2024) <https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184720.abolitionismus-abolitionismus-bedeutet-internationalistisch-zu-denken.html>.
- 2
Hannah Espín Grau, ‘Art. 19 IV und Art. 20 III GG: #Polizeiproblem im Rechtsstaat’ in Auerbach, Moissiadis, Schramm, Schuch, Thurn, Wegemund (Hg.) Unrecht mit Recht?: Ein Reader zu Nationalsozialismus und juristischer Ausbildung (AK Zeitgeschichte und Ausbildung 2024), 90.
- 3
Daniel Loick, Zur Kritik der Polizei (Campus 2018).
- 4
Vanessa Eileen Thompson, ‘“Racial Profiling”, institutioneller Rassismus und Interventionsmöglichkeiten’ (Bundeszentrale für politische Bildung, 27.04.2020) <https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-sicherheit/308350/racial-profiling-institutioneller-rassismus-und-interventionsmoeglichkeiten/>. Vgl. Thompson, ‘Rassistisches Polizieren. Erfahrungen, Umgangsweisen und Interventionen’ in Daniela Hunold und Tobias Singelnstein (Hg.), Rassismus in der Polizei: Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme (Springer VS, 2022).
- 5
KOP- Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt, ‘Chronik rassistisch motivierter Polizeivorfälle für Berlin von 2000 bis 2023’ <https://kop-berlin.de/wp-content/uploads/2023/12/Chronik.pdf>.
- 6
Thompson, ‘“Racial Profiling”, institutioneller Rassismus und Interventionsmöglichkeiten’.
- 7
Vgl. Svenja Keitzel und Bernd Belina, ‘“Gefährliche Orte”: Wie abstrakte Ungleichheit im Gesetz eingeschrieben ist und systematisch Ungleichbehandlung fördert” (2020) 110 (4) Geographische Zeitschrift.
- 8
Mohammed Ali Chahrour, Levi Sauer, Lina Schmid, Jorinde Schulz, Michèle Winkler (Hg.), Generalverdacht: Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird (Nautilus, 2023).
- 9
Matthias Monroy, “Die Polizei ist rassistisch” (nd 09.09.2024) <https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185113.strukturelle-diskriminierung-die-polizei-ist-rassistisch.html>.
- 10
Vgl. Biplab Basu und A.v.K., ‘Das Gesamtbild ist rassistisch - Rassismus und Justiz’ in Angelina Weinbender, Iris Rajanayagam, Mahdis Azarmandi (Hg.), Rassismus und Justiz (Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V. 2014).
- 11
- 12
- 13
- 14
Fallberichte in Bearbeitung
Fälle aus unserem Archiv
Fall 13
Ein Mann legt Einspruch gegen ein Bußgeld ein, das ihm auferlegt wurde, da zwei Polizisten ihn dabei beobachtet haben wollen, wie er beim Autofahren ein Telefon in der Hand hielt. Es scheint, als ob sich die Polizisten nicht an den spezifischen Vorfall erinnern. Dennoch sieht die Richterin den Vorfall als gegeben an, sodass der Verteidiger den Einspruch zurücknimmt. Dem Angeklagten entstehen zusätzlich zur Geldstrafe von 100 € in Folge des Einspruchs weitere Kosten von ca. 300 €.
Fall 3
Ein junger, migrantisierter Mann sitzt vier Monate in U-Haft. Er gesteht, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug gestohlen zu haben und wird dafür verurteilt. Der Richter verhängt eine Freiheitsstrafe in Höhe der bereits verbüßten Zeit, wodurch sich offenbar die Möglichkeit einer Haftentschädigung für den Mann erübrigt.
Fall 21
Das Gericht übt Druck auf einen Mann aus, seine Berufung gegen eine Verurteilung wegen Widerstands und Angriffs auf Vollstreckungsbeamte zurückzuziehen. Obwohl das Verfahren den Mann sichtlich belastet, scheint der Richter nicht an seinen Schilderungen des Vorfalls interessiert zu sein. Dass es in dem Verfahren keine Entlastung für den Mann geben wird, wirkt sowohl seitens des Gerichts als auch seiner Verteidigung bereits vorherbestimmt.
Fall 16
Ein junger Mann wird aufgrund seiner Äußerungen bei einer Polizeikontrolle wegen Beleidigung verurteilt. Das Gericht berücksichtigt weder die Entschuldigung des Mannes noch die Tatsache, dass dieser die Kontrolle als diskriminierend empfand. Als ihm eine härtere Strafe angedroht wird, akzeptiert er die hohe Geldstrafe, gegen die er Einspruch eingelegt hatte.
Perspektiven
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Rassimus vor Gericht dokumentieren: Interview mit Justizwatch
Justizwatch
Ein Interview mit Justizwatch über ihre Arbeit zur Dokumentation von Rassismus vor Gericht in Berlin.
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Solidarische Interventionen in rassistische Gewaltsysteme: Polizieren, Strafjustiz und (Massen-) Kriminalisierung
Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP)
Die Verschärfung staatlicher Repression, Marginalisierung und Militarisierung führt gegenwärtig zu einer Zunahme der Polizeigewalt, zu einer steigenden Zahl von Verhaftungen wegen Armutsdelikten und zur brutalen (strafrechtlichen) Disziplinierung „innerer Feinde“. In dieser Situation erscheint es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt und staatlichen Rassismus enger mit anderen Kämpfen verknüpfen können, um Entmenschlichung, Ausbeutung und weit verbreitete staatliche Gewalt endlich abzuschaffen.