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Fallarchiv

Jeden Tag erleben Menschen die ungerechte Realität des Strafsystems. Doch das, was vor Gericht geschieht, bleibt oft verborgen für diejenigen, die nicht direkt betroffen sind. In den letzten zwei Jahren hat das Justice Collective zusammen mit Aktivist*innen und Mitgliedern der Community über 200 Strafgerichtsverfahren in Deutschland beobachtet. Dabei haben wir uns auf die am häufigsten bestraften Delikte konzentriert (Fahren ohne Fahrschein, Diebstahl, Drogendelikte, Betrug, Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz und Körperverletzung), um einen Einblick in die alltägliche Arbeit der Strafgerichte zu erhalten. Hier finden sich Berichte, Kommentare und Zusammenfassungen zu einigen ausgewählten Fällen.

Beobachtungen

Systemische Faktoren, die wir beobachtet haben, sind im Fallarchiv als „Beobachtungen“ gekennzeichnet. Das Fallarchiv kann nach dieser Filterfunktion durchsucht werden. Klicke oben auf „Beobachtungen“, um mehr über unsere Analysen zu systemischem Rassismus im Strafsystem zu erfahren.

Schau dir die neuesten Fallberichte an oder nutze die Navigation rechts, um Fälle nach Beobachtungen, Art des Vergehens, Strafe und mehr zu filtern.

Fälle

Ergebnisse

Fall 23

Eine Frau kommt für eine medizinische Behandlung nach Deutschland. Ihre Familie sammelt mehrere tausend Euro, damit sie die Kosten vorab bezahlen und dadurch ein Visum erhalten kann. Eine deutsche Behörde beschuldigt sie der Ausweisfälschung. Obwohl die Staatsanwaltschaft einräumt, dass der Angeklagten keine Täuschungsabsicht nachzuweisen ist und einen Freispruch fordert, verurteilt das Gericht sie zu einer hohen Geldstrafe und setzt somit ihren Aufenthalt in Deutschland und ihre Gesundheit aufs Spiel.

Strafe als Grenzmechanismus
Geldstrafe
Betrug

Fall 22

Ein Mann wird monatelang in U-Haft gehalten und für den Verkauf von Cannabis zu einer Geldstrafe von mehreren tausend Euro verurteilt. Obwohl zum Zeitpunkt der Verhandlung Cannabiskonsum und zum Teil auch -besitz und -handel kurz vor der Legalisierung bzw. Entkriminalisierung stehen, verurteilt das Gericht das Vorgehen des Angeklagten scharf. Der Staatsanwalt bezeichnet dieses als „extrem verwerflich“.

Strafe als Grenzmechanismus
Geldstrafe
Verstoß gegen BtMG

Fall 21

Das Gericht übt Druck auf einen Mann aus, seine Berufung gegen eine Verurteilung wegen Widerstands und Angriffs auf Vollstreckungsbeamte zurückzuziehen. Obwohl das Verfahren den Mann sichtlich belastet, scheint der Richter nicht an seinen Schilderungen des Vorfalls interessiert zu sein. Dass es in dem Verfahren keine Entlastung für den Mann geben wird, wirkt sowohl seitens des Gerichts als auch seiner Verteidigung bereits vorherbestimmt.

Rassistisches Polizieren
Sonstige
Körperverletzung
Sonstige

Fall 20

Drei junge Männer werden wegen Diebstahls vom Schnellgericht vorgeladen. Da das Gericht für einen von ihnen keine*n Dolmetscher*in geladen hat, wird er nicht angehört. Stattdessen erhält er per Post einen Strafbefehl. Die beiden anderen Personen werden nach einer kurzen Anhörung zu je 600 € Geldstrafe verurteilt.

Strafe als Grenzmechanismus
Geldstrafe
Diebstahl

Fall 19

Nach mehr als sechs Wochen in Untersuchungshaft wegen geringfügigen Diebstahls wird ein junger Mann mit sechs weiteren Monaten Haft bestraft. Der Richter, der Staatsanwalt und sogar sein Anwalt betonen ihre Hoffnung, dass die harte Strafe ihn dazu bewegen wird, in sein früheres Wohnsitzland zurückzukehren.

Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Diebstahl

Fall 18

Das Verfahren gegen eine junge Frau wegen Diebstahls wird im Schnellverfahren eingestellt, allerdings nur gegen eine Geldauflage. Sie erklärt, dass Sicherheitsvideos sie entlasten würden, aber das Gericht ist nicht dazu bereit, das Verfahren zu verlängern, um Beweise zu sichten, und geht offenbar von der Schuld der Frau aus.

Kriminalisierung von Armut
Sonstige
Diebstahl

Fall 17

Das Gericht verurteilt eine ältere Frau wegen geringfügigen Diebstahls in einem Supermarkt zu einer hohen Geldstrafe. Als das Urteil verkündet wird, treten Sicherheitskräfte an die Frau heran und nehmen sie fest. Gegen sie liegt ein Haftbefehl vor, da sie eine Geldstrafe aus einem früheren Fall nicht bezahlt hat; sie soll umgehend ins Gefängnis gebracht werden.

Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Fall 16

Ein junger Mann wird aufgrund seiner Äußerungen bei einer Polizeikontrolle wegen Beleidigung verurteilt. Das Gericht berücksichtigt weder die Entschuldigung des Mannes noch die Tatsache, dass dieser die Kontrolle als diskriminierend empfand. Als ihm eine härtere Strafe angedroht wird, akzeptiert er die hohe Geldstrafe, gegen die er Einspruch eingelegt hatte.

Rassistisches Polizieren
Geldstrafe
Sonstige

Fall 15

In einem Verfahren von etwa zehn Minuten stellt das Gericht das Bußgeldverfahren wegen eines Verkehrsstreits gegen einen jungen Mann ein. In dem Streit hatte die Gegenpartei, ein Polizist in Zivil, seine Befugnisse missbraucht.

Rassistisches Polizieren
Sonstige
Verstoß gegen StVO
Sonstige

Fall 14

Ein junger, rassifizierter Mann befindet sich seit über einem Monat in U-Haft. Er wird wegen sechsfachen Diebstahls zu eineinhalb Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Eine Rolle in dem Verfahren spielt, dass er wiederholt von der Polizei an einem so genannten „kriminalitätsbelasteten Ort“ kontrolliert wurde. Einige daraus resultierende Verfahren gegen ihn werden zwar eingestellt, tragen aber dazu bei, dass das Gericht dem Mann eine „kriminelle Energie“ zuschreibt.

Rassistisches Polizieren
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Diebstahl

Fall 13

Ein Mann legt Einspruch gegen ein Bußgeld ein, das ihm auferlegt wurde, da zwei Polizisten ihn dabei beobachtet haben wollen, wie er beim Autofahren ein Telefon in der Hand hielt. Es scheint, als ob sich die Polizisten nicht an den spezifischen Vorfall erinnern. Dennoch sieht die Richterin den Vorfall als gegeben an, sodass der Verteidiger den Einspruch zurücknimmt. Dem Angeklagten entstehen zusätzlich zur Geldstrafe von 100 € in Folge des Einspruchs weitere Kosten von ca. 300 €.

Rassistisches Polizieren
Sonstige
Verstoß gegen StVO

Fall 12

Ein Mann wird zu einer Geldstrafe von 1.800 € wegen mehrfachen Fahrens ohne Fahrschein verurteilt. Er hat keinen Anwalt und scheint zu befürchten, dass er nach der Verhandlung ins Gefängnis muss.

Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Fahren ohne Fahrschein

Fall 11

Dank eines starken Verteidigers wird das Verfahren gegen einen Mann wegen Besitzes einer sehr geringen Menge Cannabis eingestellt. Trotz der in Berlin zu der Zeit geltenden Richtlinie, wonach Fälle von Cannabisbesitz bis zu 10 Gramm von der Staatsanwaltschaft einzustellen sind, sowie der bevorstehenden Legalisierung des Besitzes viel größerer Mengen, wird nicht erörtert, weshalb die Anklage verfolgt wurde. Ebenso bleibt unklar, ob womöglich Racial Profiling zur Anzeige führte.

Rassistisches Polizieren
Sonstige
Verstoß gegen BtMG

Fall 10

In einer fünfminütigen Verhandlung wird ein Paar, das seit kurzem in Deutschland ist und Asyl beantragt hat, wegen Diebstahls von Lebensmitteln im Wert von etwa 30 € zu einer Geldstrafe von 200 € verurteilt.

Strafe als Grenzmechanismus
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Fall 9

Ein Mann ist beschuldigt, einen Mitarbeiter des Jobcenters am Telefon beleidigt zu haben und wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Während der Verhandlung ist die Richterin mit ihm ungeduldig. Sie drängt ihn, die Anweisungen des Jobcenters zu befolgen, und zeigt kein Verständnis dafür, dass jemand, der auf Sozialleistungen angewiesen ist, frustriert mit dieser Institution sein könnte.

Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Sonstige

Fall 8

Weil sie in einem Supermarkt Kleidung und Lebensmittel im Wert von etwa 100 € gestohlen hat, wird eine junge Frau zu drei Monaten Gefängnis (für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt) und 80 Stunden unbezahlter Arbeit verurteilt. Während der Verhandlung verhält sich die Richterin feindselig ihr gegenüber und beschuldigt sie des Asyl- und Sozialleistungsbetrugs.

Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 7

Ein junger Mann, der noch alte Geldstrafen abbezahlt, wird wegen des Diebstahls eines Sandwiches und einer Schokolade zu einer Geldstrafe von 600 € verurteilt. Obwohl das Gericht finanzielle Not als Motiv anerkennt, betont die Richterin, Diebstahl sei „keine Lösung“.

Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Fall 6

Eine junge Frau wird wegen mehrfachen Ladendiebstahls zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Ihr desinteressierter Anwalt setzt sich kaum für sie ein und erläutert auch nicht die Umstände ihres prekären Beschäftigungsverhältnisses, welches in diesem Fall einen relevanten Hintergrund bildet, sich aber nicht auf die Entscheidung des Gerichts auswirkt.

Kriminalisierung von Armut
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 5

Ein Mann wird zu 140 Tagessätzen à 15 € für einen Diebstahl von Lebensmitteln im Wert von unter 5 € verurteilt. Als Bürgergeldempfänger entspricht dieser Tagessatz fast dem Gesamtbetrag, der ihm täglich zur Verfügung steht. Die Richterin hält die harte Strafe im Hinblick auf die Vorstrafen des Angeklagten für notwendig.

Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Fall 4

Eine junge Frau wird wegen dreifachen Fahrens ohne Fahrschein zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Wenn sie erneut ohne Fahrkarte erwischt wird, drohen ihr mehrere Monate Haft und wahrscheinlich der Verlust ihrer prekären Beschäftigung.

Kriminalisierung von Armut
Bewährungsstrafe
Fahren ohne Fahrschein

Fall 3

Ein junger, migrantisierter Mann sitzt vier Monate in U-Haft. Er gesteht, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug gestohlen zu haben und wird dafür verurteilt. Der Richter verhängt eine Freiheitsstrafe in Höhe der bereits verbüßten Zeit, wodurch sich offenbar die Möglichkeit einer Haftentschädigung für den Mann erübrigt.

Rassistisches Polizieren
Haftstrafe
Diebstahl

Fall 2

Eine junge Frau gibt zu, eine Tüte mit Lebensmitteln gestohlen zu haben und entschuldigt sich dafür. Dennoch verhängt die Richterin eine hohe Geldstrafe und droht der Frau mit Gefängnis, sollte sie ein weiteres Mal verurteilt werden.

Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Fall 1

Eine Frau mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus und fehlender Arbeitserlaubnis wird in einem beschleunigten Verfahren wegen dreimaligen Fahrens ohne Fahrschein verurteilt. Trotz ihrer finanziellen Nöte und der Tatsache, dass sie keinen Rechtsbeistand hat, verhängt das Gericht eine hohe Geldstrafe. Die Frau wird wiederholt dazu befragt, warum sie nach Deutschland gekommen sei und sich in Deutschland aufhalte, was für die Urteilsfindung rechtlich nicht relevant ist.

Strafe als Grenzmechanismus
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Fahren ohne Fahrschein