Fall 22
Fallnummer | 22 |
Anklage | Verstoß gegen BtMG |
Verteidigung anwesend | Ja |
Übersetzung anwesend | Ja |
Rassifizierte Person | Ja |
Ausgang | Geldstrafe |
Ein Mann wird monatelang in U-Haft gehalten und für den Verkauf von Cannabis zu einer Geldstrafe von mehreren tausend Euro verurteilt. Obwohl zum Zeitpunkt der Verhandlung Cannabiskonsum und zum Teil auch -besitz und -handel kurz vor der Legalisierung bzw. Entkriminalisierung stehen, verurteilt das Gericht das Vorgehen des Angeklagten scharf. Der Staatsanwalt bezeichnet dieses als „extrem verwerflich“.
Von Untersuchungshaft sind nicht-deutsche Staatsangehörige nachweislich besonders betroffen. Das liegt daran, dass Gerichte bei Menschen mit Wohnsitz außerhalb Deutschlands routinemäßig von einer „Fluchtgefahr“ ausgehen – obwohl dies laut Gesetz keinen ausreichenden Grund darstellt.
Auch in diesem Fall ist die Erfahrung der beschuldigten Person mit dem Strafsystem stark durch seine Herkunft geprägt. Zum einen ist er von der unverhältnismäßigen Anordnung von U-Haft gegen nicht-deutsche Staatsangehörige betroffen. Zum anderen führt auch der Staatsanwalt die Herkunft des Beschuldigten als Grund an, weswegen dessen Verhalten besonders zu verurteilen sei.
In dieser moralisierenden Sichtweise geraten strukturelle Hintergründe aus dem Blick. Der Verteidiger weist an einer Stelle zwar darauf hin, dass es „wahrscheinlich nicht der Lebenstraum des Angeklagten“ gewesen ist, „nach Deutschland zu kommen, um mit Drogen zu handeln“. Damit deutet er auf die ungleiche Verteilung von Wohlstand hin, die Menschen aus anderen Ländern teilweise dazu bewegen, wirtschaftliche Möglichkeiten in Deutschland zu suchen – auch wenn diese innerhalb des Landes ebenfalls ungleich verteilt sind. Auf die sozioökonomischen Umstände, auf die er damit flüchtig hinweist, wird im Folgenden jedoch nicht weiter eingegangen.
Wir erfahren zunächst, dass der Angeklagte im EU-Ausland lebt. Er spricht kein deutsch und hat einen Dolmetscher sowie einen Verteidiger. Der Mann gibt an, als Taxifahrer einige hundert Euro im Monat zu verdienen. Zu Beginn des Prozesses gesteht der Mann die Vorwürfe gegen ihn (Handel mit Betäubungsmitteln) durch eine von seinem Anwalt verlesene Erklärung. Im Taxi des Mannes fand die Polizei einige Gramm Cannabis mit geringem THC-Gehalt, sodass die Schwelle eines geringfügigen Vergehens nicht überschritten ist. Im Verlauf der Verhandlung äußern sich sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt herablassend und moralisierend über den Angeklagten, der zu Verhandlungsbeginn auch schon mehrere Monate in Untersuchungshaft verbringen musste.
Der Anwalt des Mannes weist die Bemerkung des Staatsanwalts zwar zurück, gibt sich ansonsten aber keine große Mühe bei der Verteidigung. In seinem Plädoyer macht er keine Anstalten, sich für einen Freispruch oder eine niedrige Strafe auszusprechen, sondern fordert lediglich eine Geldstrafe in einer Höhe, die das Gericht für angemessen hält. Der Richter verurteilt den Angeklagten zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 15 €. Auf 30 Tage hochgerechnet entspricht dieser Tagessatz dem gesamten monatlichen Einkommen des Mannes. In seiner Begründung unterstreicht der Richter noch einmal seine moralische Verurteilung des Vorgehens des Angeklagten.