Fall 1
Fallnummer | 1 |
Anklage | Fahren ohne Fahrschein |
Verteidigung anwesend | Nein |
Übersetzung anwesend | Ja |
Rassifizierte Person | Ja |
Ausgang | Geldstrafe |
Eine Frau mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus und fehlender Arbeitserlaubnis wird in einem beschleunigten Verfahren wegen dreimaligen Fahrens ohne Fahrschein verurteilt. Trotz ihrer finanziellen Nöte und der Tatsache, dass sie keinen Rechtsbeistand hat, verhängt das Gericht eine hohe Geldstrafe. Die Frau wird wiederholt dazu befragt, warum sie nach Deutschland gekommen sei und sich in Deutschland aufhalte, was für die Urteilsfindung rechtlich nicht relevant ist.
Mobilität sollte ein Grundrecht sein und kein Privileg. Dementsprechend sollte diese Frau nicht dafür bestraft werden, dass sie öffentliche Verkehrsmittel ohne Fahrschein nutzt. Durch die Verhängung einer Geldstrafe, die die Mittel der Frau deutlich übersteigt, kriminalisiert das Gericht faktisch Armut und verschlimmert damit höchstwahrscheinlich genau die Bedingungen, aus denen die „Tat“ hervorgeht. Dass die Frau nicht genügend Geld hat, um Fahrscheine zu bezahlen, macht das Gericht zu einer Frage der Moral. Es wirft ihr sogar vor, eine schlechte Mutter zu sein – ein Vorurteil, mit dem insbesondere rassifizierte Frauen regelmäßig vor Gericht konfrontiert werden, wie wir beobachten. Die Schwere der Strafe könnte (je nach Aufenthaltsstatus) dazu führen, dass die Frau Deutschland verlassen muss. Die Strafe dient also der Durchsetzung der deutschen Grenzpolitik und in diesem Fall scheint die Richterin eine bereitwillige Vollstreckerin zu sein.
Die beschuldigte Frau hat eine Dolmetscherin, aber keinen Rechtsbeistand. Im Laufe der Verhandlung befragt die Richterin sie wiederholt nach den Gründen für ihre Einreise nach Deutschland und ihren Aufenthalt. Rechtlich hat dies keine Relevanz für die Verhandlung. Die Frau sagt, sie erhalte Sozialleistungen für sich und ihre Kinder und habe Schulden, wegen denen sie sich Beratung von einer Sozialeinrichtung einhole. Die Schulden kämen zum Teil aus früheren Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrschein.
Die Richterin zeigt sich skeptisch gegenüber den Aussagen der Frau. Sie fragt, wie diese ohne Deutschkenntnisse zurechtkomme und kritisiert sie für ihre mangelnde Sprachkenntnis. Die Frau erklärt, dass es in der Sozialeinrichtung jemanden gebe, der ihr helfe und auch beim Kauf einer Monatskarte behilflich sein werde. Sie erklärt sich bereit, die Geldstrafe in Raten zu zahlen, zeigt sich – in Gerichtssprache – also „kooperativ“. Die Richterin scheint das jedoch nicht zu interessieren. Sie tadelt die Frau wegen ihrer angeblichen moralischen „Verfehlungen“ und erklärt, sie solle keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, wenn sie Schulden habe. In seiner Anklage weist der Staatsanwalt darauf hin, dass dies das letzte Mal sein werde, dass er eine Geldstrafe beantragt. Er droht der Frau mit Gefängnis und fügt hinzu, dass es für ihre Kinder schlecht wäre, wenn sie inhaftiert würde.
Der Staatsanwalt beantragt eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen in Höhe von 10 €. Die Richterin verhängt eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen, erhöht aber den Tagessatz auf 15 €, wodurch sich die Gesamtstrafe auf 1.350 € beläuft.