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Jailing people for unpaid fines is about more than punishing poverty

Carmen Grimm, Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe

Coalition protesting outside of Bundestag with signs for abolishing Ersatzfreiheitsstrafe and Justice Collective

In Deutschland kommen täglich Menschen hinter Gitter, weil sie eine Geldstrafe nicht zahlen können. Ein Großteil aller Inhaftierungen trifft damit Menschen, die gar nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden. Anders gesagt: Bagatelldelikte, für die weder ein Gericht noch ein Gesetzestext in diesem Land eine Haftstrafe vorgesehen haben, führen regelmäßig ins Gefängnis. Denn in Deutschland werden bei Zahlungsunfähigkeit die Tagessätze der Geldstrafen, die über 80 % aller Strafen in Deutschland ausmachen, in Hafttage konvertiert und Menschen aus dem Leben gerissen. Das nennt sich Ersatzfreiheitsstrafe.

Davon sind eben jene betroffen, die ihre Geldstrafe nicht zahlen können. Denn Geldstrafe wird in Tagessätzen verhängt, die auf dem Nettoeinkommen basieren. Das heißt vereinfacht, dass ein Tagessatz Geldstrafe dem entspricht, was eine Person pro Tag (geschätzt durch das Gericht) zum Leben zur Verfügung hat. Damit sind Geldstrafen oft unbezahlbar für Menschen mit keinem oder niedrigem Einkommen, die keine Rücklagen oder eine besondere Bedarfslage haben. Denn, wenn alles abgedrückt werden muss, was bleibt dann noch zum Leben? Diesen Menschen droht dann, ihre Strafe stattdessen im Knast absitzen zu müssen. Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft also Menschen, die, wie die Kriminologin Nicole Bögelein beschreibt, „arm und einsam“ sind.1 Armut wirkt hier eindeutig strafverschärfend.

Als Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe fügen wir hinzu: Die Ersatzfreiheitsstrafe diskriminiert nicht entlang von Armut allein. Ersatzfreiheitsstrafe ist für uns immer im Wechselspiel mit weiteren Auswüchsen und Fallstricken des Geldstrafensystems zu verstehen und Armut in Verschränkung mit anderen Diskriminierungsformen. So nämlich wird sichtbar, dass dieser Mechanismus das fortsetzt, was mit repressiven Gesetzen und als Racial Profiling auf der Straße beginnt: Dass rassifizierte und migrantisierte Menschen in Deutschland stärker kriminalisiert und kontrolliert werden, heißt auch, dass disproportional viele von Rassismus betroffene Menschen „ersatzweise“ im Gefängnis landen. Ersatzfreiheitsstrafe führt uns nicht nur vor Augen, wie das Geldstrafensystem arme Menschen diskriminiert, sondern stellt auch das Ende in einer langen Reihe von Diskriminierungen rassifizierter und migrantisierter Menschen im Geldstrafensystem dar.

Pro Jahr sind hierzulande schätzungsweise 56.000 Personen von Ersatzfreiheitsstrafe betroffen, Tendenz steigend. Das sind in etwa so viele Menschen, wie in Frankfurt/Oder leben oder wie in das Fußballstadion des HSV passen. Schauen wir uns noch genauer um, weisen uns Studien darauf hin, dass in manchen Gefängnissen über 40 % „Ersatzler*innen” sitzen und fast jede zweite Inhaftierung eine Ersatzfreiheitsstrafe ist. Bilder und Zahlen wie diese haben wir in den letzten zweieinhalb Jahren mit dem Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe gezeichnet und gesucht, um die Ausmaße dieser Strafe verständlich zu machen. 2022 sind mehr als 20 NGOs, Initiativen und Einzelpersonen aus der Sozialen Arbeit, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft zusammengekommen, um gemeinsam die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe zu fordern. Der Einladung des Justice Collective sind dabei Personen und Gruppen aus dem Bereich der Gefangenenhilfe (u.a. GG/BO Gefangenen-Gewerkschaft, Tatort Zukunft), mit dem Schwerpunkt in der Erwerbslosenhilfe sowie Kritische Jurist*innen und Interessenvertretungen wie die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland gefolgt. Seitdem sammeln wir wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema, klären auf über Ersatzfreiheitsstrafe und ihre Schieflagen, haben den Reformprozess zur Ersatzfreiheitsstrafe kritisch begleitet und waren mehrfach als Expert*innen zu Anhörungen geladen, organisieren Kundgebungen und vernetzen uns. Wir sind das erste Bündnis, das nicht nur die Reform, sondern die bedingungslose Abschaffung („Abolition“) der Ersatzfreiheitsstrafe fordert und darüber hinaus Fragen an das gesamte auf Geldstrafen basierende Sanktionssystem aufwerfen möchte.

Die Zahlen der Vollstreckungen und damit die Schicksale der Menschen, die durch Ersatzfreiheitsstrafen aus dem Leben gerissen werden, steigen seit Jahrzehnten. Viele kleine Anpassungen und Maßnahmen auf Landesebene konnten nicht verhindern, dass sich die jährlichen Inhaftierungen in den letzten 40 Jahren sogar verdoppelt haben. Wir sehen das – wie auch bspw. die Wissenschaftler*innen Frank Wilde und Nicole Bögelein – im Zusammenhang mit steigender Armut in Deutschland. Bereits seit vielen Jahren gibt es lauter werdende Kritik an der Praxis. Die diversen Kritiker*innen sind sich einig: Der ökonomische Status einer Person darf nicht über das Strafübel entscheiden. Dieser Ansicht stimmen wir als Bündnis zu – und laden immer wieder dazu ein, den Blick zu weiten für die Verschränkungen von Armut und Rassismus.

Die Dringlichkeit, über die Ersatzfreiheitsstrafe aufzuklären und sie abzuschaffen, liegt für uns in diesen Verschränkungen. In unserem Bündnis haben sich verschiedene Perspektiven verbunden und damit einen Blick auf diese Praxis freigegeben, der die Wirkweisen von Armut im System Geldstrafe intersektional betrachtet. Beispielsweise hat die Debatte rund um die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein, für das jährlich viele Tausende Menschen in Ersatzfreiheitsstrafe landen, Gruppen wie den 9-Euro-Fonds und BVGWeilWirUnsFürchten – und damit einhergehend auch Fragen nach Rassismus im ÖPNV und durch Security-Firmen – im Bündnis verankert.

Mit dieser Perspektive lassen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse erweitern und ergänzende Fragen aufwerfen. Studien haben gezeigt, dass Personen, die in Ersatzfreiheitsstrafe landen, ein niedriges bis kein Einkommen haben, schlecht vernetzt sind und sich ihre Lebenssituation mitunter als desolat beschreiben lässt; dass die Zahlen derjenigen, die die Haft durch sogenannte Alternativen (wie Ratenzahlung oder Maßnahmen wie „Arbeit statt Haft“) abwenden können, auf verschwindend geringe Werte sinken. Wir fragen dann: Was wird überhaupt (zunehmend) kriminalisiert vor dem Hintergrund armuts- und migrationsfeindlicher Gesetzgebungen? Wer wird an welchen Orten überhaupt angehalten und teilweise brutal kontrolliert – im Hinblick auf Racial Profiling und polizeibelastete Orte? Bei wem wird kein Auge zugedrückt und wer stattdessen mit einer saftigen Strafe belegt? Wer ist in der Lage, Behördenpost zu erhalten und zu verstehen; und weiß darüber Bescheid, dass es im sogenannten „Strafbefehlsverfahren“ zum Urteil ohne Anhörung – einfach per Brief – kommt? Wer verfügt über so wenig Einkommen, Einkommensmöglichkeiten und andere Ressourcen, sodass Geldstrafen, die auf dem Nettoeinkommen basieren, das zum Leben Notwendige entziehen? Diese Fragen treiben uns um und machen uns die Kontinuität der Ungerechtigkeit klar, die sich fortsetzt vom Gesetzestext, über Kontrollen auf der Straße, durch Verfahrensweisen bis hinein ins Gefängnis, wenn Menschen aufgrund ihrer Lebensweisen, ihres Aussehens, ihres (angenommenen) Aufenthaltsstatus, ihrer Wohnorte und Lebenswelten besonders ins Visier der Kontrollinstanzen geraten und kriminalisiert werden.

Im Jahr 2023 hat die Bundesregierung die Chance vertan, die Ersatzfreiheitsstrafe grundlegend zu ändern. Eine kosmetische Reform hat lediglich die Umrechnungsrate von Tagessätzen in Haftzeiten verändert. Nun gilt anstelle einer 1:1-Umrechnung: Zwei Tagessätze werden mit einem Hafttag abgegolten. Wir sind der Meinung, dass die Koalition von SPD, Grünen und FDP ihr Versprechen, von der Strafpolitik der Vorgängerregierung abzukehren, nicht eingelöst hat. Das Beispiel Ersatzfreiheitsstrafe wird dabei sogar noch überschattet von den Verschärfungen des Migrations- und Aufenthaltsrechts im Herbst 2024.

Als Bündnis überlegen wir nun, ein gutes Jahr nach der Reform der Ersatzfreiheitsstrafe, wie es für uns weitergeht. Seither haben wir uns mit der Entkriminalisierung spezifischer Armutsdelikte, wie dem Fahren ohne Fahrschein, und mit dem sogenannten Cannabisgesetz beschäftigt. Das Strafsystem, das sozioökonomische und soziale Ungleichheiten aufrechterhält und verstärkt, umfasst jedoch mehr als einzelne Praxen oder Paragraphen. Es reicht vom Racial Profiling in den ÖPNVs über rassistische Razzien gegen sogenannte „Clankriminalität“ bis zur Kriminalisierung von Armutsdelikten wie Lebensmitteldiebstahl, wird ergänzt durch unverhältnismäßige Tagessatzhöhen und das Strafbefehlsverfahren, und endet dann in Ersatzfreiheitsstrafe. Vielerorts wird gestraft, wenn soziale Antworten und Umgangsweisen angemessen wären. Statt zugängliche Aufklärungs- und Unterstützungsprogramme anzubieten, werden Gegenden und Personengruppen durch ein hohes Kontrollieren durch Polizei und durch Strafanzeigen, wie bspw. zu Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz, geprägt. Wirtschaftlich und gesellschaftlich marginalisierte sowie rassifizierte Menschen trifft staatliche Bestrafung somit härter und gezielter.

Das System Strafe muss grundlegend überdacht werden, und ein Beginn kann jeden Tag aufs Neue gemacht werden. Nur wenn wir aufhören, Strafe und Gefängnis als erstes Mittel der Politik einzusetzen, und stattdessen andere sozialpolitische Maßnahmen ergreifen, können wir es schaffen, dass die Schere zwischen Arm und Reich und zwischen denen, die teilhaben dürfen, und denen, die ausgeschlossen werden, nicht immer weiter aufgeht. Von der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe abgesehen, können wir jetzt bei der Legalisierung von Armutsdelikten, Drogen und Migration ansetzen. Unser Bündnis steht als Gesprächspartner*in zur Verfügung. 

Citations

  • 1

    Bögelein, Nicole (2023): Ersatzfreiheitsstrafe – Eine entbehrliche Sanktionsmaßnahme. Entkräftung sechs gängiger Thesen von Verteidiger*innen des Freiheitsentzugs wegen Zahlungsunfähigkeit, vorgänge. Zeitschrift für
    Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik
    Nr. 243 [62(3)], S. 56.