Racism on Trial: Warum wir Strafgerichte beobachten

Das deutsche Strafsystem spannt ein weites Netz:1 Jährlich werden Millionen von Menschen wegen vermeintlicher Straftaten kontrolliert und es wird gegen sie ermittelt, rund 600.000 Fälle werden schließlich verurteilt. Trotz dieses Ausmaßes ist der Alltag der Massenkriminalisierung für Nichtbetroffene weitgehend unsichtbar, was dazu führt, dass systemische Ungerechtigkeiten verschleiert werden.
Die Tatsache, dass viele mit den täglichen Abläufen und Mechanismen des Strafsystems nicht vertraut sind, ermöglicht es, dass sich rechte und populistische Narrative über sogenannte „Ausländerkriminalität“ durchsetzen und falsche Vorstellungen über vermeintlich ständig zunehmende Gewaltkriminalität nähren, was der Legitimierung gewaltvoller Rhetorik und „Null-Toleranz“ Politik dient. Dieser Logik zufolge seien alle Migrant*innen Kriminelle, und die Lösungen vermeintlich Abschiebungen, Leistungskürzungen und Bestrafung. Der politische Raum für eine Diskussion über die Auswirkungen und die Gewalt des Strafsystems für diejenigen, die kontrolliert und bestraft werden, und für die Forderung nach transformativen Lösungen bleibt somit verschlossen.
In der Realität geht das deutsche Strafsystem gezielt gegen Menschen aus rassifizierten und migrantischen Gemeinschaften vor, was schwerwiegende Folgen nach sich zieht. Die überwiegende Mehrheit der Strafverfahren (ca. 520.000), die jedes Jahr verurteilt werden, sind geringfügige Fälle, die mit Geldstrafen für Vergehen wie geringfügigen Diebstahl und Fahren ohne Fahrschein geahndet werden; weitere 59.000 werden mit Bewährungsstrafen und 25.000 mit Haftstrafen bestraft. Migrantisierte Gruppen werden unverhältnismäßig häufig bestraft: Etwa 39 % der Verurteilungen richten sich gegen nicht-deutsche Staatsangehörige.2 Untersuchungen zeigen auch, dass nicht-deutsche Staatsangehörige härter bestraft werden.3
Wie wir in unserer Kampagne Racism on Trial anhand der Beobachtung von über 200 Strafprozessen belegen, formt das Strafsystem systemische Ungerechtigkeiten und hält sie zugleich aufrecht. So werden beispielsweise Armutsdelikte wie Diebstahl, Sozialhilfebetrug oder Fahren ohne Fahrschein kriminalisiert und streng geahndet, wobei das Strafsystem als Antwort auf soziale Ungleichheit eingesetzt wird. Migrantisierte Menschen sind am stärksten betroffen, da sie statistisch gesehen eher über ein geringeres Einkommen verfügen und häufiger von der Polizei kontrolliert werden. Die Bestrafung von Menschen dient auch der Durchsetzung des Grenzregimes. So werden beispielsweise Geflüchtete dafür kriminalisiert, dass sie sich das Nötigste nicht leisten können, selbst wenn dies auf gesetzliche Beschränkungen der Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten zurückzuführen ist.
Die Kampagne Racism on Trial zielt darauf ab, diese Realitäten aufzugreifen, indem Strafgerichte durch kollektives Courtwatching zu Orten des Aktivismus werden. Prozessbeobachtungen haben in Deutschland eine lange Geschichte, insbesondere in Solidarität mit den Opfern rassistischer Polizeiarbeit und Polizeigewalt.4 Wir bauen auf dieser Geschichte auf und bedienen uns der Prozessbeobachtung als Mittel, das einen Einblick in das System der Massenkriminalisierung bietet. Wir verstehen Prozessbeobachtung als Teil einer breiteren abolitionistischen Praxis.5
Unsere Prozessbeobachtung verorteten wir zunächst in der Forschung, da wir verstehen wollten, was innerhalb dieses Systems tatsächlich passiert. Indem wir die tägliche Arbeit der Gerichte beobachten, sehen wir, welche Interessen bedient werden, wer bestraft wird und wofür, und wie das System grundlegende Ungerechtigkeiten erzeugt und untermauert. Das Ergebnis dieser Arbeit sind unsere Beobachtungen, in denen wir unsere Erkenntnisse über die systembedingten und verfahrenstechnischen Ungerechtigkeiten der Bestrafung und Kriminalisierung in Deutschland teilen. Außerdem nutzen wir die Prozessbeobachtung auch als Werkzeug zur politischen Organisierung, indem wir unsere Fallberichte veröffentlichen, damit andere daran anknüpfen können, und indem wir durch kollektive Prozessbeobachtung und Dialog eine Gemeinschaft von Aktivist*innen aufbauen, die sich mit diesen Themen befassen. Wir behalten die Institutionen im Auge und generieren Wissen, das wir für die Entwicklung von Forderungen und nicht-reformistischen Reformen nutzen können. Gleichzeitig bauen wir mehr Ressourcen für Solidarität und gegenseitige Hilfe mit Menschen auf, die von diesen Systemen betroffen sind.
Diese verschiedenen Ziele und Möglichkeiten des Courtwatching als Instrument des Widerstands werden in dieser kurzen Einführung erörtert. Eure Gruppe kann sich auf eines oder mehrere dieser Ziele konzentrieren; wir gehen auch darauf ein, wie Prozessbeobachtung mit anderen Taktiken kombiniert werden kann, je nach strategischen Zielen und Ausrichtung. Wir hoffen, dass wir andere Gruppen dazu inspirieren können, sich gegen die Ungerechtigkeiten dieses Systems zu wehren und Prozessbeobachtung als Teil ihrer Praxis einzusetzen.
Warum Gerichte?
Gerichte spielen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Systems, das wir bisher beschrieben haben. Zum einen verleihen sie den Ungerechtigkeiten des Strafsystems einen Anschein von Legitimität und Rechtmäßigkeit. Gerichte legitimieren und ermöglichen durch ihre Urteile die Massenkriminalisierung von Armut und andere strultuerelle Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen, die versuchen, sich an einem neuen Ort ein Leben aufzubauen. Aus diesem Grund bezeichnet die Berliner Initiative Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), die seit über zwei Jahrzehnten das Racial Profiling durch die Polizei dokumentiert, Strafgerichte als Teil eines rassistischen Systems.6 Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zu der in Deutschland weit verbreiteten Auffassung, Gerichte seien neutral. Diese Auffassung trägt dazu bei, die Rolle der Gerichte in der Produktion von Ungerechtigkeiten zu verschleiern.
Die Details des Geschehens im Gerichtssaal – z.B. das Verhalten der einzelnen Akteure, ihre Interaktionen untereinander und mit der betroffenen Person – sind ebenfalls von Bedeutung, auch weil sie die Erfahrungen struktureller Gewalt für die Betroffenen prägen. Gerichte sind Orte, an denen lebensverändernde Entscheidungen getroffen werden. Wie ein Prozessbeobachter in einem US-basierten Projekt suggeriert: Um die Gewalt der Gefängnisse zu bekämpfen, „müssen wir dorthin gehen, wo die Entscheidungen getroffen werden, Menschen überhaupt in Käfige zu stecken.“7
Wenn wir das Gericht beobachten, ist ein Großteil des Strafsystems nicht sichtbar: Viele Entscheidungen werden getroffen, bevor die Fälle vor Gericht verhandelt werden. Vieles hängt beispielsweise davon ab, wie die Polizei arbeitet, ob Fälle verfolgt werden und ähnliches. Aber wie Jocelyn Simonson, eine amerikanische Rechtswissenschaftlerin, erklärt, schmälert die Tatsache, dass so viel aus dem Blickfeld gerät, nicht die Macht der Prozessbeobachtung: „Ein Großteil der ‚Rechtsprechung‘ ist anderswo geschehen. . . . Aber die Aufmerksamkeit auf diesen Deckmantel zu lenken, bedeutet, seine Macht zu verringern; davon zu berichten, dass das Wenige, das in jedem Fall gesagt wird, sich zu etwas Größerem zusammenfügt. Auf diese Weise besteht ein grundlegendes Ziel der Organisation von Prozessbeobachtungen darin, eine Verschiebung der Machtverhältnisse greifbar zu machen, indem diejenigen, die im System Macht haben, unter kollektive Beobachtung gestellt werden.“8
Courtwatching als politische Praxis: Warum und wie
Courtwatching ist eine Möglichkeit, „Gerichtssäle zurückzuerobern, um die dortigen Praktiken zu verstehen, sie zu dokumentieren und schließlich gegen sie vorzugehen“.9 Prozessbeobachtung kann vielen verschiedenen Zwecken dienen, und jedes Ziel kann die Art und Weise beeinflussen, wie deine Gruppe Courtwatching einsetzt, wie sie das, was sie im Gerichtssaal lernt, nutzt und wie Courtwatching in ihren größeren strategischen Plan passt. Im Folgenden gehen wir auf all diese Aspekte ein.
Dieser Leitfaden kann zusammen mit unserem Toolkit Prozessbeobachtung: rechtlicher Leitfaden gelesen werden, der zusätzliche Ratschläge zu den praktischen Aspekten der Prozessbeobachtung enthält, einschließlich wichtiger Überlegungen vor der Veröffentlichung von Daten (z.B. Datenschutz und Zustimmung), wie man sich im Gerichtssaal verhält, Regeln für das Tragen und Mitbringen politischer Symbole und mehr.
- 1. Rassismus vor Gericht stellen: Vereinfacht gesagt, haben wir außerhalb der Erfahrungsberichte betroffener Communities nicht viele Informationen (Daten oder Forschung) darüber, wer in Deutschland kriminalisiert wird, unter welchen Umständen und auf welche Art. Courtwatch-Gruppen können mit der Beobachtung von Prozessen als Recherche beginnen, um den systemischen Rassismus dieser Institutionen zu verstehen und aufzudecken.
- - Wenn sich eure Gruppe auf die Prozessbeobachtung als Recherche über Rassismus und das Strafsystem konzentriert, solltet ihr euch frühzeitig Gedanken darüber machen, wie ihr diese Informationen für euren Aktivismus nutzen wollt, weil das die Herangehensweise eurer Beobachtung beeinflussen wird. Wir wussten zum Beispiel, dass wir die Berichte über die von uns beobachteten Fälle mit anderen Gruppen teilen wollten, also machten wir sehr detaillierte Notizen, um die Prozesse für ein breiteres Publikum rekonstruieren zu können. Eine weitere Idee für die Kommunikation ist das Erzählen von Geschichten (Storytelling) auf der Grundlage von Prozessbeobachtungen. Persönliche Geschichten können ein wichtiges Instrument für abolitionistische Kampagnen sein, um „Daten“ oder Beweise für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten greifbar zu vermitteln. Zum Beispiel können Prozessbeobachtungen Geschichten über rassistische und diskriminierende Polizeimethoden liefern, die Betroffene und solidarische Kampagnen teilen können, um Menschen mit einer konkreten Erfahrung zu erreichen.
- - Wir empfehlen auch, das, was ihr vor Gericht beobachtet habt, gemeinsam mit anderen zu analysieren. Das könnt ihr mit anderen Prozessbeobachter*innen tun, aber auch mit Menschen, die von diesen Systemen betroffen sind, um zu verstehen, was ihr beobachtet habt. Häufig lässt sich durch Nachbesprechung mehr erkennen, als auf den ersten Blick erwartet.
- - Wenn sich eure Gruppe auf die Prozessbeobachtung als Recherche über Rassismus und das Strafsystem konzentriert, solltet ihr euch frühzeitig Gedanken darüber machen, wie ihr diese Informationen für euren Aktivismus nutzen wollt, weil das die Herangehensweise eurer Beobachtung beeinflussen wird. Wir wussten zum Beispiel, dass wir die Berichte über die von uns beobachteten Fälle mit anderen Gruppen teilen wollten, also machten wir sehr detaillierte Notizen, um die Prozesse für ein breiteres Publikum rekonstruieren zu können. Eine weitere Idee für die Kommunikation ist das Erzählen von Geschichten (Storytelling) auf der Grundlage von Prozessbeobachtungen. Persönliche Geschichten können ein wichtiges Instrument für abolitionistische Kampagnen sein, um „Daten“ oder Beweise für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten greifbar zu vermitteln. Zum Beispiel können Prozessbeobachtungen Geschichten über rassistische und diskriminierende Polizeimethoden liefern, die Betroffene und solidarische Kampagnen teilen können, um Menschen mit einer konkreten Erfahrung zu erreichen.
- 2. Gerechtigkeit neu denken: Durch die Beobachtung von Gerichten werden die sich überschneidenden Ungerechtigkeiten dieser Systeme aufgedeckt, eine Analyse, die für den Widerstand gegen die Gewalt des Systems wichtig ist. Wir haben zum Beispiel gesehen, wie Migrationsstatus, Gender und Armut zusammenwirken, und den Kontakt mit dem Strafsystem prägen. Die Tatsachen dieser Erfahrungen widersprechen der populistischen Vorstellung von „Ausländerkriminalität“ und damit verbundener „Null-Toleranz Politik“. Wie Simonson in ihrem Buch schreibt, „sind Prozessbeobachter [in der Lage], die Funktionsweise des Strafsystems neu zu erzählen und ihre eigene kollektive Gegenerzählung zu entwickeln, in der die Gewalt im Gerichtssaal im Mittelpunkt steht und nicht die angeblichen schlechten Taten der Beschuldigten“.10 Damit verbunden ist der Gedanke, dass Courtwatching-Gruppen angesichts ihrer Beobachtungen der Gewalt der Gerichte und des Strafsystems alternative Visionen dafür entwickeln können, wie die tatsächliche Überwindung von Schaden außerhalb strafender Institutionen aussehen könnte.
- - Wenn ihr herausfinden wollt, wie ihr eure Gegenanalyse an die Öffentlichkeit bringt, könnt ihr euch hier über andere Courtwatch-Gruppen informieren und darüber, wie sie ihre Berichte veröffentlichen. Zu den Ansätzen gehören unmittelbare Berichterstattung über Fälle in den sozialen Medien, Pressearbeit, längere politische Berichte oder Proteste.
- - Die strukturelle Analyse fließt auch in die politische Strategie und den Aufbau von Bündnissen ein. Wenn wir die Ursachen verstehen, wissen wir, womit wir es zu tun haben und wer von diesen Systemen betroffen ist, und wir können uns zusammenschließen, um sie zu bekämpfen. Unsere Ergebnisse zeigen zum Beispiel, dass Kriminalisierung und Bestrafung keine isolierten Probleme sind, sondern mit anderen strukturellen Faktoren wie dem Grenzregime, der Austeritätspolitik oder dem Ableismus zusammenhängen. Indem wir diese Zusammenhänge aufzeigen, können wir auch Bewegungen miteinander verbinden und Lösungen finden, die auf dieser systemischen Ebene wirken, anstatt nur Symptome zu bekämpfen.
- - Wenn ihr herausfinden wollt, wie ihr eure Gegenanalyse an die Öffentlichkeit bringt, könnt ihr euch hier über andere Courtwatch-Gruppen informieren und darüber, wie sie ihre Berichte veröffentlichen. Zu den Ansätzen gehören unmittelbare Berichterstattung über Fälle in den sozialen Medien, Pressearbeit, längere politische Berichte oder Proteste.
- 3. Solidarität: Vor Gericht sind Betroffene, vor allem in Bagatellfällen, oft allein. Selbst wenn sie von Anwält*innen oder Familienangehörigen und Freund*innen unterstützt werden, ist es ein starker Akt der Solidarität, wenn Mitglieder der Öffentlichkeit die Erfahrung einer Person bezeugen, die sich der Isolation des Strafsystems widersetzt. Über das Beobachten hinaus kann Solidarität auch gemeinschaftliche Verteidigung,11 gegenseitige Hilfe, wie z. B. die Suche nach antirassistischen Anwält*innen und die Deckung anderweitiger Bedürfnisse, Spendenaktionen zur Deckung von Gerichts- und Anwaltskosten oder die Unterstützung bei der Beantragung von Zahlungsplänen oder gemeinnütziger Arbeit für Menschen, die ihre Strafe nicht bezahlen können, umfassen. Gegenseitige Hilfe kann auch ein Baustein für die weitere Organisierung an der Seite von Menschen sein, die von diesen Systemen betroffen sind.
- - Solidarische Projekte sollten gemeinsam mit den betroffenen Menschen und Communities entwickelt werden und keine Top-down-Modelle der Sozialarbeit nachbilden. Einige Komponenten der Solidarität und gegenseitigen Hilfe sollten Teil aller Courtwatching-Projekte sein, und die Gruppen sollten sich bewusst sein, dass die Bereitstellung direkter Unterstützung oder die Entwicklung von Ressourcen (wie vertrauenswürdige Verweislisten) kapazitätsintensiv ist. Courtwatch-Gruppen sollten realistisch einschätzen, was sie tun können, und dementsprechend planen, wenn sie anfangen. Vor einiger Zeit haben wir als Justice Collective damit begonnen, eine Ressourcenliste für Betroffene zu erstellen und eine Hotline einzurichten, an die sich Betroffene wenden können, wenn sie möchten, dass wir sie in ihrem Strafverfahren begleiten. Wir hoffen, dass wir im Laufe der Zeit weitere Ressourcen aufbauen können, indem wir uns mit den Bedürfnissen und Wünschen der Betroffenen auseinandersetzen.
- - Solidarische Projekte sollten gemeinsam mit den betroffenen Menschen und Communities entwickelt werden und keine Top-down-Modelle der Sozialarbeit nachbilden. Einige Komponenten der Solidarität und gegenseitigen Hilfe sollten Teil aller Courtwatching-Projekte sein, und die Gruppen sollten sich bewusst sein, dass die Bereitstellung direkter Unterstützung oder die Entwicklung von Ressourcen (wie vertrauenswürdige Verweislisten) kapazitätsintensiv ist. Courtwatch-Gruppen sollten realistisch einschätzen, was sie tun können, und dementsprechend planen, wenn sie anfangen. Vor einiger Zeit haben wir als Justice Collective damit begonnen, eine Ressourcenliste für Betroffene zu erstellen und eine Hotline einzurichten, an die sich Betroffene wenden können, wenn sie möchten, dass wir sie in ihrem Strafverfahren begleiten. Wir hoffen, dass wir im Laufe der Zeit weitere Ressourcen aufbauen können, indem wir uns mit den Bedürfnissen und Wünschen der Betroffenen auseinandersetzen.
- 4. Veränderung der Machtverhältnisse: Die Anwesenheit von Prozessbeobachter*innen – vor allem, wenn diese offen über ihre Erkenntnisse im Gerichtssaal sprechen – verschiebt das Kräfteverhältnis im Saal: „Die Akteure des Strafrechtssystems sind es gewohnt, ein Publikum zu haben, aber sie sind es nicht gewohnt, beobachtet zu werden“12 und ,der Akt des Beobachtens kann eine Form der Einflussnahme sein‘.13 Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Akteure ihr Verhalten ändern werden oder dass die bloße Schaffung von Transparenz das Ziel ist, aber die Macht im Gerichtssaal verschiebt sich, wenn es den Akteuren nicht erlaubt ist, wie gewohnt weiterzumachen.
- - Im Idealfall besteht die Gruppe aus Menschen, die von Strafen betroffen sind, und wird von ihnen geleitet. Sie steht in Kontakt mit den Personen, die vor Gericht stehen, und hat deren Erlaubnis und/oder Mitwirkung an der Initiative. Dies ist das Modell anderer Gerichtsbeobachtungsgruppen, die z. B. Fälle von Opfern von Racial Profiling oder Polizeigewalt beobachten.14 Im Falle von Massendelikten sollte eure Gruppe in ihrer Strategie und ihren Prioritäten den Aufbau von und den Kontakt zu den Betroffenen vorsehen, einschließlich der Kontaktaufnahme über Community-Gruppen, informelle Netzwerke, Netzwerke für gegenseitige Hilfe, Rechtsanwält*innen sowie Sozialarbeiter*innen. Eure Gruppe könnte dann an Anhörungen teilnehmen, die von diesem Netzwerk für euch vorgeschlagen werden.
- - Es ist auch möglich, Gerichtsverhandlungen zu beobachten, ohne diese erste Verbindung zu den Betroffenen zu haben. Wenn ihr dies tut, solltet ihr jedoch sehr vorsichtig vorgehen, vor allem in Bezug auf die Art und Weise, wie ihr euch vor Gericht präsentiert und Informationen aus der Prozessbeobachtung veröffentlicht.
- - Ob ihr mit der Person in Kontakt steht, hat auch Einfluss darauf, wie ihr euch im Gerichtssaal verhaltet. In Fällen, in denen die Person darum gebeten hat, wie es etwa häufig bei kriminalisierten Aktivist*innen der Fall ist, kann es sein, dass die Person möchte, dass die Prozessbeobachter*innen aktiver ihren Widerstand gegen das Gericht, dessen Argumentation und Entscheidung zeigen. In solchen Fällen können Gruppen auch Proteste oder Informationsstände vor dem Gericht organisieren oder auf andere Weise auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen. Derartige Taktiken sollten jedoch nur nach Rücksprache mit der beschuldigten Person (und gegebenenfalls auch mit ihren Anwält*innen) angewandt werden.
- - Im Idealfall besteht die Gruppe aus Menschen, die von Strafen betroffen sind, und wird von ihnen geleitet. Sie steht in Kontakt mit den Personen, die vor Gericht stehen, und hat deren Erlaubnis und/oder Mitwirkung an der Initiative. Dies ist das Modell anderer Gerichtsbeobachtungsgruppen, die z. B. Fälle von Opfern von Racial Profiling oder Polizeigewalt beobachten.14 Im Falle von Massendelikten sollte eure Gruppe in ihrer Strategie und ihren Prioritäten den Aufbau von und den Kontakt zu den Betroffenen vorsehen, einschließlich der Kontaktaufnahme über Community-Gruppen, informelle Netzwerke, Netzwerke für gegenseitige Hilfe, Rechtsanwält*innen sowie Sozialarbeiter*innen. Eure Gruppe könnte dann an Anhörungen teilnehmen, die von diesem Netzwerk für euch vorgeschlagen werden.
- 5. Gegenmacht aufbauen: Wie viele, die schon einmal an einer Prozessbeobachtung teilgenommen haben, wissen, kann die kollektive Beobachtung, das Lernen und der Widerstand vor Gericht aktivierend sein. Das gilt auch für Menschen, die schon einmal wegen einzelner Fälle vor Gericht waren: Es macht einen großen Unterschied, ob die vielen Fälle „nur“ beobachtet werden, oder ob man den Alltag von Strafsystemen dann gemeinsam mit anderen analysiert, Strategien entwickelt und ins Handeln kommt. Das gemeinsame Zuschauen vor Gericht fördert unsere kollektiven Einblicke in das Strafsystem und wie wir uns dagegen wehren und darauf hinarbeiten können, seine Fassade der „Gerechtigkeit“ abzubauen und sie durch echte Gerechtigkeit zu ersetzen.
- - Selbst für Menschen, die persönliche Erfahrungen mit dem Strafsystem haben, ist die kollektive Gerichtsbeobachtung ein starkes Instrument der Organisierung, da Menschen zusammenkommen, um die Strukturen der systemischen Unterdrückung zu verstehen. Eine Herausforderung besteht darin, dass Prozessbeobachtung zeitintensiv ist. Deshalb sollte eure Gruppe überlegen, wie sie Menschen in die Beobachtung von Gerichtsprozessen einbeziehen kann, die nicht einen halben Wochentag damit verbringen können, die Verfahren zu beobachten. Unser Archiv ist ein Versuch, genau das zu tun.
- - Selbst für Menschen, die persönliche Erfahrungen mit dem Strafsystem haben, ist die kollektive Gerichtsbeobachtung ein starkes Instrument der Organisierung, da Menschen zusammenkommen, um die Strukturen der systemischen Unterdrückung zu verstehen. Eine Herausforderung besteht darin, dass Prozessbeobachtung zeitintensiv ist. Deshalb sollte eure Gruppe überlegen, wie sie Menschen in die Beobachtung von Gerichtsprozessen einbeziehen kann, die nicht einen halben Wochentag damit verbringen können, die Verfahren zu beobachten. Unser Archiv ist ein Versuch, genau das zu tun.
- 6. Realpolitische Veränderungen: Das System unterliegt auch einem ständigen Wandel und passt sich an politische und rechtliche Veränderungen an. Auf diese Weise sind regelmäßige Gerichtsbesuche ein wichtiges Instrument, um Rassismus in den Gerichten zu beobachten und Möglichkeiten für nicht-reformistische Reformen oder Reformen zu erkennen, die die Macht des Systems nicht festigen, sondern eher seinen Umfang verringern. Gelegentlich haben wir bei unseren Gerichtsbesuchen ein bestimmtes politisches Problem im Auge, wie z. B. die Überwachung der Umsetzung der jüngsten Änderungen bei der Kriminalisierung des Cannabiskonsums und -besitzes.
- - Wenn ihr euch mit Prozessbeobachtung befasst, um bestimmte Themen zu verfolgen oder um Möglichkeiten für politische Maßnahmen zu ermitteln, solltet ihr euch im Vorfeld Gedanken über eure Methodik machen. So kann es beispielsweise sinnvoll sein, eine Zufallsstichprobe von Fällen zu verwenden, damit es nicht den Anschein hat, dass die Schlussfolgerungen, die ihr zieht, auf ausgewählten Beispielen beruhen. Ihr könnter Fälle an bestimmten Wochentagen über einen bestimmten Zeitraum hinweg beobachten oder ähnliches. Eine weitere Überlegung ist, ob die Gruppe direkt mit Akteuren in Gerichten und/oder politischen Akteuren zusammenarbeiten will und was das für die Gruppe bedeutet. Einerseits besteht die Gefahr, dass ihr vom System vereinnahmt werdet, da es zeigen kann, dass es sich mit Kritik auseinandersetzt. Andererseits könnt ihr vielleicht eine echte Veränderung erreichen.
Fazit
Bislang ist die kollektive Prozessbeobachtung in Deutschland nicht so weit verbreitet, wie sie es sein sollte. Wenn sich immer mehr Gruppen in immer mehr Orten zusammenschließen, um sich gegen die Macht des Strafsystems zu wehren, ist es möglich, dass die Institutionen sich wehren oder versuchen, sich umzugestalten und die Kritik zu beschwichtigen. Wir sollten auf solche Entwicklungen achten und gemeinsam über Prozessbeobachtung als Mittel des Aktivismus in der Zukunft nachdenken.
Quellenangaben
- 1
Einen Überblick über den Umfang des Strafsystems findet ihr in unserer Veröffentlichung What does the criminal legal system look like.
- 2
Statistischer Bericht Strafverfolgung 2022, Destatis Statistisches Bundesamt, Justiz und Justizverwaltung.
- 3
Michael Light, „The punishment consequences of lacking national membership in Germany“, 1998-2010 (2016) Social Forces, 94(4), S. 1385-1408; Michael Light, „Punishing the ‚Others‘“ (2017) European Journal of Sociology, 58(1), S. 33-71; Jörg Hupfeld, „Richter- und gerichtsbezogene Sanktionsdisparitäten in der deutschen Jugendstrafrechtspraxis“ (1999) 82 Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, S. 342-358; Volker Grundies & Michael Light, „Die Sanktionierung der ‚Anderen‘ in der Bundesrepublik“ (2014) Risiken der Sicherheitsgesellschaft-Sicherheit, Risiko & Kriminalpolitik, S. 225-239 (analysiert eine Million Daten und stellt fest, dass nicht-deutsche Staatsangehörige im Vergleich zu deutschen Staatsangehörigen 9 % länger verurteilt werden und dass ihre Chancen auf Bewährung geringer sind, wobei andere Faktoren berücksichtigt werden); Christian Pfeiffer et al., „Probleme der Kriminalität bei Migranten und integrationspolitische Konsequenzen“, Expertise für den Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat) der Bundesregierung, Kriminologische Forschungsinstitute Niedersachsen e. V. (2004), S. 72-79 (Analyse von 1.516 Strafakten zu schweren Diebstahlsfällen aus den Jahren 1991, 1995 und 1997 in Niedersachsen und Schleswig-Holstein mit dem Ergebnis, dass Personen ohne Aufenthaltserlaubnis häufiger und länger zu Haftstrafen verurteilt werden als deutsche Staatsangehörige oder andere nichtdeutsche Staatsangehörige. Die Studie zeigt auch, dass nicht-deutsche Staatsangehörige häufiger in Untersuchungshaft genommen werden).
- 4
In unseren Ressourcen für Aktivist*innen findet ihr Informationen über andere Gruppen, die in Deutschland und darüber hinaus Prozessbeobachtungen durchführen.
- 5
Weitere Hintergründe zu einer abolitionistischen Perspektive auf das deutsche Strafsystem finden sich in der Instagram-Serie des Justice Collective (@justice_collective_berlin) „Why We Need Abolition: Polizeiarbeit, Bestrafung und Gefängnisse in Deutschland“. Die Serie ist eine Einführung in diese Systeme und argumentiert, dass die strukturellen Ungerechtigkeiten - darunter auch Rassismus - des Systems bedeuten, dass wir uns neu vorstellen müssen, wie Sicherheit und Gerechtigkeit aussehen sollten.
- 6
Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), Alltäglicher Ausnahmezustand: Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden, 2016. Edition Assemblage.
- 7
Simonson, Jocelyn. Radical Acts of Justice: How Ordinary People Are Dismantling Mass Incarceration. The New Press, 2023.
- 8
Simonson, Jocelyn. Radical Acts of Justice: How Ordinary People Are Dismantling Mass Incarceration. The New Press, 2023.
- 9
Simonson, Jocelyn. Radical Acts of Justice: How Ordinary People Are Dismantling Mass Incarceration. The New Press, 2023.
- 10
Simonson, Jocelyn. Radical Acts of Justice: How Ordinary People Are Dismantling Mass Incarceration. The New Press, 2023.
- 11
Zum Beispiel: Participatory Defense: A Community Organizing Model.
- 12
Simonson, Jocelyn. Radical Acts of Justice: How Ordinary People Are Dismantling Mass Incarceration. The New Press, 2023.
- 13
Simonson, Jocelyn. Radical Acts of Justice: How Ordinary People Are Dismantling Mass Incarceration. The New Press, 2023.
- 14
Zum Beispiel:. Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP); Jusitzwatch; Solidaritätskreis Mouhamed Lamine Dramé; Women* in Exile, sowie andere Courtwatch-Gruppen.