Ressourcen für Aktivist*innen

Solidarische Prozessbeobachtung ist eine hilfreiche Methode, um zu verstehen, wie der Staat straft - und wie wir uns mit den Betroffenen solidarisieren können. Wir sehen Courtwatching als Teil einer abolitionistischen Praxis. Abolitionismus ist eine langfristige Vision und eine alltägliche Praxis auf dem Weg zu einer Welt ohne Strafgerichte, Polizei und Gefängnisse. Courtwatching ist eine Form der gegenseitigen Hilfe, des Widerstands und eine Strategie, um nicht-reformistische Reformen zu erarbeiten, die heute sinnvolle Veränderungen bewirken, um das System zu entmachten, anstatt es zu festigen. Für alle, die daran interessiert sind, aktiv zu werden oder eine Courtwatching-Gruppe zu gründen, haben wir eine Sammlung von Ressourcen und Kampagnenmaterialien von kollektiven Kämpfen in Deutschland und darüber hinaus zusammengestellt, die sich darauf konzentrieren, das Strafsystem und die Strafgerichte zu überwinden.
Mit Dokumentation Machtverhältnisse verschieben
Die alltägliche Arbeit von Gerichten und die Realität derjenigen, die von Kriminalisierung betroffen sind, bleibt den meisten Menschen, die nicht direkt von staatlicher Gewalt und Bestrafung betroffen sind, verborgen. Aufzudecken, was Gerichte tatsächlich tun, und Berichte zu teilen, kann ein kraftvolles Instrument sein, um Copaganda zu bekämpfen und Gegennarrative gegen Straflogik zu schaffen. Überall auf der Welt gibt es Gruppen, die Prozesse beobachten, und sie nutzen ihre Beobachtungen auf unterschiedliche Weise: Einige verwenden die Berichte, um die Auswirkungen von Reformen der Strafjustiz zu beobachten, andere konzentrieren sich darauf, die Stimmen von Betroffenen in den Vordergrund zu stellen und wieder andere nutzen die Erkenntnisse aus den Gerichtsbeobachtungen, um Forderungen und Kampagnenziele zu untermauern. Zusätzlich zu unserem Fallarchiv könnt ihr euch die Arbeit anderer Gruppen ansehen, um zu entscheiden, welcher Ansatz für eure Strategie am besten geeignet ist.
Berichte von Courtwatch-Gruppen in Deutschland
Justizwatch dokumentiert seit 2014 Rassismus im Justizsystem. Auch wenn die Gruppe nicht mehr aktiv ist, findet Ihr auf ihrem Blog Protokolle und Analysen von Prozessen, mit einem Schwerpunkt auf Fällen von rassistischer Polizeigewalt, aber auch einigen anderen Strafverfahren.
Die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) dokumentiert Polizeigewalt und Racial Profiling durch die Polizei und begleitet Betroffene solidarisch im Gericht. Ihre Berichte beleuchten dabei die Zusammenarbeit und den rassistischen Schulterschluss zwischen Polizei und Justiz.
Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed dokumentiert den Prozess gegen die fünf Polizeibeamten, die für den Tod von Mouhamed Lamine Dramé verantwortlich sind. Durch die Beobachtung des Prozesses wirft die Initiative ein Schlaglicht auf die rassistische Polizeiarbeit, die zu Mouhameds Tod führte, warum Polizisten vor Gericht keine Konsequenzen zu erwarten haben und wie die Justiz polizeiliches Töten legitimiert. Ihr könnt euch auch die Berichterstattung von Radio Nordpol über den Prozess anhören und die Perspektive von aktivistischen Prozessbeobachtern hören.
Die Initiative 2. Mai in Mannheim kämpft für Gerechtigkeit für Ante P., der 2022 bei einem Polizeieinsatz getötet wurde. Auf ihrer Website findet ihr Berichte über den belastenden Prozess und Stimmen von Ante P.’s Angehörigen.
NSU Watch dokumentiert Prozesse gegen rechte Netzwerke, insbesondere den Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Der NSU-Komplex1 ermordete zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen, neun davon aus rassistischen Motiven. Neben der Beobachtung von Strafprozessen und staatlichen Untersuchungsausschüssen veröffentlicht NSU Watch Informationen zu rechten Netzwerken und trägt zur lückenlosen Aufklärung des NSU-Komplexes und rechten Terrors in Deutschland bei.
Prozess Report dokumentiert Prozesse in Deutschland und Österreich, um den Umgang der Justiz mit rechten Netzwerken kritisch zu begleiten, gegen die Kriminalisierung von Migration zu kämpfen und die Kriminalisierung von Protest zu thematisieren. Auf ihrem Blog findet ihr Berichte zu den Prozessen und Broschüren zur kritischen Dokumentation von Strafprozessen.
Tatort Porz ist eine antirassistische Initiative, die den Prozess gegen den CDU-Politiker Hans Josef Bähner dokumentiert hat, der aus rassistischen Gründen auf einen jungen Mann aus Porz geschossen und ihn schwer verletzt und beleidigt hat. Ihre Berichte und ihre Analyse zu Bähners Verurteilung könnt ihr auf ihrer Website nachlesen.
Die Initiative Oury Jalloh fordert Gerechtigkeit und Aufklärung für den Mord an Oury Jalloh, der vor fast 20 Jahren in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt wurde. Die Initiative sowie eine internationale Delegation von Prozessbeobachter*innen dokumentierten den Prozess und deckten auf, wie Gerichte Rassismus legitimieren und wie ihre institutionelle Verbindung zur Polizei lückenlose Aufklärung verhindert.
Courtwatching-Leitfäden und -Modelle
Ihr wollt eine Courtwatching-Gruppe gründen oder Courtwatching als Teil einer abolitionistischen Kampagne umsetzen? Hier findet ihr einige Leitfäden und Ressourcen von Courtwatching-Gruppen weltweit, die euch dabei helfen können, ein Modell zu finden, das zu euren Zielen und eurer Strategie passt.
Leitfäden auf Englisch
Survived and Punished: How to start your own Courtwatch
Beyond Criminal Courts: Community Interventions to Shift Power Inside Criminal Court
Community Justice Exchange: So you want to courtwatch? Guide
Courtwatch London: Courtwatching - A Learning Guide
Tools für den deutschen Kontext
Justice Collective: Courtwatching Legal Guide
Justice Collective: Courtwatching Training
Reach Out: Über dem Richter gibt es nur den Himmel
Migrationsrat Berlin: Workshopreihe Rassismus und Justiz
Azadi e.V.: Broschüre zur Prozessbeobachtung des 129b-Verfahrens von Yildiz Aktaş
Abolitionistische Strategie
Überall auf der Welt organisieren sich Menschen gegen staatlich sanktionierte Gewalt, Polizei, Gerichte und Gefängnisse. Wenn eure Gruppe eine neue Kampagne oder eine Strategie zur Abschaffung von strafenden Institutionen aufbauen möchte oder wenn ihr von anderen Kampagnen lernen wollt, wie nicht-reformistische Reformen realisiert werden können, findet ihr hier einige Ansätze. Diese Ressourcen konzentrieren sich auf Massenkriminalisierung und Strafgerichte. Weitere Themen findet ihr in den unten aufgelisteten weiteren abolitionistischen Ressourcen.
Interrupting Criminalization, Project Nia & Critical Resistance: So is this Actually an Abolitionist Proposal or Strategy? A collection of resources to aid in evaluation and reflection
Stevie Wilson and Community Justice Exchange: Beyond courts - study guide
Community Justice Exchange: Dismantling Carceral Debt: A Manifesto on Building Debtor Power
Community Justice Exchange: A Social Media Toolkit for Organizing and Advocacy to End Mass Criminalization and Incarceration
Beyond Criminal Courts: Abolitionist Principles & Campaign Strategies for Prosecutor Organizing
Project NIA: Abolitionist Toolbox - Everyday Resources for a Punishment-Free World
Abolitionistische Publikationen auf Deutsch
In Deutschland gibt es viele Gruppen und Bewegungstraditionen, die abolitionistische Prinzipien in ihrer Arbeit umsetzen. Die Geschichte und Vielfalt abolitionistischer Praktiken übersteigt den Rahmen dieser Materialsammlung. Als Ausgangspunkt zum Erkunden abolitionistischer Bewegungsprinzipien mit Bezug zum deutschen Kontext und damit verbundener Analysen empfehlen wir diese Einleitung zur 135. Ausgabe des CILIP-Magazins. Hier ist eine kleine Auswahl von Veröffentlichungen von Gruppen zum Thema Kriminalisierung, Polizeigewalt, transformative Gerechtigkeit und rassistische Straflogik.
Ihr seid keine Sicherheit: Gegenbericht zum Jahresbericht der Berliner Polizei zu den sogenannten “kriminalitätsbelasteten Orten”
Ihr seid keine Sicherheit: FAQ Abolitionismus
Go Film The Police: A Street Action Guide
Melanie Brazell: What really makes us safe? Toolkit for Activists
Community against Rape and Abuse (CARA): Das Risiko Wagen. Strategien für selbstorganisierte und kollektive Verantwortungsübernahme bei sexualisierter Gewalt
Solidaritätskreis Justice 4 Mouhamed, Defund the Police Dortmund und Justice Collective: Warum gibt es vor Gericht keine Gerechtigkeit?
Justizwatch: Literaturliste
Weitere abolitionistische Ressourcen
Hier findet ihr weitere Ressourcen, Artikel, Leitfäden und Berichte von und für abolitionistische Bewegungen weltweit.
Transformative Justice Collective Resource Collection (DE/EN)
Racial Capitalism, Crises, Abolition - Documentation of International Activist Conference 2023
Mehr lesen
Du möchtest noch mehr über Abolitionismus, systemischen Rassismus und Strafgerichte lesen? Hier sind einige Artikel und Podcasts, die wir empfehlen können.
Artikel
DE
Britta Rabe und Michèle Winkler: “Es braucht ein Umdenken, bevor weitere Menschen sterben” - Zur Systematik staatlicher Legitimierung polizeilichen Tötens, Analyse und Kritik
Niels Seibert: Armut und soziale Probleme lassen sich nicht strafrechtlich lösen, Neues Deutschland
Shaïn Morisse, Vanessa E. Thompson: Eine kurze Geschichte des Abolitionismus - Die Bewegung will nicht nur Polizei und Gefängnisse endgültig abschaffen, Neues Deutschland
Katharina Schoenes: Rassistische Behördenkette - Erst diskriminiert, dann angezeigt - Betroffene, die sich dagegen wehren wollen, werden von Polizei und Gerichten kriminalisiert, Neues Deutschland
Initiative 2. Mai: Auswertung der Prozessbegleitung zum Tod von Ante P. - eine Zwischenbilanz
EN
Jocelyn Simonson: “We Stopped Him From Going to Prison!” Groups of people are showing up to collectively contest the criminal legal system, Hammer and Hope
Jocelyn Simonson: “We’re Only Here to Watch”How courtwatchers are shifting the power dynamics in criminal courtrooms., The Nation.
Zohra Ahmed: The Demand for Transparency as Non-Reformist Reform, LPE Project
Zohra Ahmed and Rachel Foran: No More Courts - The legal institutions, processes, procedures, and actors implicated in the progression of criminal cases are simply beyond reform. Inquest Decarceral Pathways
Podcasts and Videos
DE
ManyPod #18: Böllern gegen den Staat? Silvesterkrawalle und rassistische Stereotype
#4 Daniel Loick & Vanessa Eileen Thompson - Online Lecture
EN
Abolitionismus Special Part 1 | Abolitionist futures: in conversation with Vanessa Thompson and Daniel Loick, The minor constellations podcast
Abolitionismus Special Part II | Justice Collective: in conversation with Mitali Nagrecha and Anthony Obst, The minor constellations podcast
Quellenangaben
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Wir sprechen vom NSU-Komplex, weil die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter nicht allein von drei Neonazis verübt wurden. Sie wurden von einer breiteren rechten Szene unterstützt von der sie Teil waren. Auch der Verfassungsschutz, die Polizei, hetzerische Medien und eine Justiz, die nicht bereit ist, umfassend zu ermitteln, sind Teil eines rassistischen Systems. In der Abwesenheit von Gerechtigkeit innerhalb des Systems zielten die NSU-Tribunale darauf ab, das Leid der Betroffenen anzuerkennen, den struktuellen Rassismus zu benennen, Aufklärung einzufordern und auf strukturelle Veränderung hinzuarbeiten.