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Forderungen für nicht-reformistische Reformen des Strafrechtssystems 2025

Collage mit Stadt im Hintergrund und einer Wahlurne und Stimmzetteln im Vordergrund

(das ganze Dokument samt Fußnoten kann hier als PDF heruntergeladen werden)

Jedes Jahr werden mehr als 600.000 Menschen durch das Strafrechts- system bestraft. Die überwiegende Mehrheit der Fälle wird mit Geldstrafen geahndet und betrifft Delikte wie Bahnfahren ohne Fahrschein, Diebstahl, Betrug, Drogendelikte oder Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz. Wenn Menschen ihre Geldstrafen nicht bezahlen können, werden sie zu Ersatz- freiheitsstrafen verurteilt, wovon jährlich etwa 56.000 Menschen betroffen sind.

Dieses System der Kriminalisierung und Bestrafung trifft aufgrund systemischer Faktoren, die in wirtschaftlichen und sozialen Hierarchien verwurzelt sind, unverhältnismäßig viele Menschen aus rassifizierten und migrantischen Communities. Die Polizeipraxis des Racial Profiling trägt zur Voreingenommenheit des Systems bei. Auch arme Menschen sind unverhältnismäßig stark betroffen, da sie wegen so genannter „Armuts- delikte" wie Bahnfahren ohne Fahrschein oder Diebstahl angeklagt werden.

Populistische Narrative über die hohe „Ausländerkriminalität" verschleiern die tatsächlichen Ungerechtigkeiten, die sich aus der Überschneidung von Kriminalisierung und Migration ergeben: migrantisierte und rassifizierte Menschen werden aufgrund von strukturellen Ungerechtigkeiten häufiger kriminalisiert und härter bestraft.1 Kriminalisierung und Bestrafung führen zu Schulden, Arbeitsplatz- und Wohnungsunsicherheit und anderen negativen Folgen.

Wir - eine vielfältige Gruppe von Organisationen und Expert*innen, einschließlich derer, die direkt von dieser Politik betroffen sind - sind der Überzeugung, dass diese Realitäten unmenschlich sind und beendet werden müssen. Die politischen Parteien sollten die von uns vorgeschlagenen politischen Änderungen in ihre Programme aufnehmen und auf einen echten Wandel hinarbeiten, und zwar ab sofort.

Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen: Wir fordern die endgültige Abschaffung der Armutsbestrafung mittels Ersatzfreiheitsstrafe.2 Die vom Bundestag beschlossene Reform von Juli 2023, die die Haftdauer halbiert, lässt die Realität unberührt, dass weiterhin zehntausende Menschen jedes Jahr wegen Armut inhaftiert werden.3

Senkung von Geldstrafen: Die im Juli 2023 eingeführte Regelung, wonach Richter*innen das Existenzminimum der Menschen berücksichtigen müssen, ist ineffektiv geblieben. Geldstrafen bleiben unerschwinglich, da Gerichte weiterhin für Bürgergeldbezieher*innen routinemäßig Tagessätze in Höhe von 15 EUR/Tag verhängen - fast ihr gesamtes tägliches Einkommen. § 40 StGB sollte mit klareren Richtlinien ergänzt werden, damit die Richter* innen nicht so weitermachen können wie bisher. Menschen mit geringem Einkommen haben sehr wenig (1-3 EUR/Tag) oder gar kein Geld zur Verfügung, da die Sozialleistungen weit unter dem existenzsichernden Bedarf liegen. Eine gesetzlich festgeschriebene Senkung der Geldstrafen kann die Schäden des Systems abmildern, wird aber nur dann wirksam sein, wenn sie mit den von uns geforderten transformativen Lösungen einhergeht.

Beendigung migrationsrechtlicher Konsequenzen von Strafurteilen: Der Bundestag muss Straf- und Migrationsrecht entkoppeln, damit die Kriminalisierung nicht zu migrationspolitischen Konsequenzen führt. Der Bundestag kann mit folgenden Gesetzesänderungen beginnen, die sich auf Menschen mit geringen Straftaten auswirken würden. Erstens: Wir beobachten täglich vor Gericht, wie die Auslegung des § 46 StGB (Grundsätze der Strafzumessung) rassifizierte und migrantische Menschen benachteiligt. Richter*innen verhängen härtere Strafen aufgrund des Migrationsstatus, unter anderem weil die Betroffenen nicht arbeiten können oder die deutsche Sprache nicht beherrschen. Der § 46 StGB sollte geändert werden, um diese systematische Diskriminierung zu beseitigen. Außerdem drohen Menschen mit Duldung negative migrationspolitische Konsequenzen, wenn sie zu einer Strafe von insgesamt 50 Tagen verurteilt werden. Das bedeutet, dass zwei geringfügige Armutsdelikte ihre Bleibeperspektive in Deutschland beeinträchtigen. Diese und ähnliche Regelungen, die das Strafsystem zur Erleichterung der ungerechten Abschiebepraxis heranziehen, müssen abgeschafft werden.

Pauschale Inhaftierung von nichtdeutschen Staatsbürger*innen in U-Haft stoppen: 60 Prozent der 12.000 Untersuchungshäftlinge in deutschen Gefängnissen sind nichtdeutsche Staatsangehörige, obwohl der Anteil nichtdeutscher Staatsangehöriger an allen Angeklagten 30 Prozent beträgt. In 95 % der Fälle führen das Gericht "Fluchtgefahr" als Grund für die Untersuchungshaft an. Während das Gesetz konkrete Tatsachen verlangt, die belegen, dass eine Person fliehen wird, stellen Richter*innen in der Praxis Vermutungen über Nichtdeutsche-Staatsangehörige an, unter anderem aufgrund von Stereotypen über ihre Herkunftsorte oder einfach weil die Person Verbindungen zu einem anderen Ort hat. Die derzeitige deutsche Gerichtspraxis hält sich auch nicht an die jüngsten Leitlinien der Europäischen Kommission, die ausdrücklich vor der übermäßigen Anwendung des Begriffs "Fluchtgefahr" zur Inhaftierung von Nicht-Staatsbürger*innen warnen.

Rassistische Kontrollen beenden, KbOs abschaffen: Jeden Tag werden Menschen aufgrund von Racial Profiling durch die Polizei oder private Sicherheitsdienste (z. B. Sicherheitskräfte von Verkehrsbetrieben oder Einzelhandelsgeschäften) kriminalisiert. Die Sicherheitsbehörden stützen sich auf vage Begründungen und wenig Beweise, um rassifizierte und migrantische Menschen diskriminierend anzuhalten. Die Polizei konzentriert die Strafverfolgung auf selbst ernannte „kriminalitätsbelastete Orte (kbOs)" in migrantischen und rassifizierten Vierteln. Diese rassistischen Praktiken müssen beendet werden, beginnend mit der Abschaffung der KbOs und der damit einhergehenden Ausweitung der polizeilichen Befugnisse, der Gesetzgebung gegen diskriminierende Kontrollen durch private Sicherheitsdienste und der Unterstützung der Entwicklung von Alternativen zu polizeilichen Maßnahmen, z.B. in Fällen von psychischen Notfällen.

Entkriminalisierung von Diebstahl: Durch die massenhafte Bestrafung von Diebstahl - etwa 53.000 Fälle pro Jahr - gibt der Staat privaten Geschäftsinteressen Vorrang vor den materiellen Interessen der Bevölkerung und bestraft Menschen für ihre Armut. Wie wir vor Gericht sehen, werden die Menschen am häufigsten beim Diebstahl von Lebensmitteln oder anderen notwendigen Dingen erwischt.4 Der Bundestag kann die Entkriminalisierung mit Maßnahmen verbinden, die sicherstellen, dass Menschen, die Leistungen beziehen, genug haben, um sich ein Leben in Würde zu leisten.

Abschaffung des Strafbefehls: In geringfügigen Fällen werden Personen per Post verurteilt. Sie haben möglicherweise nie die Möglichkeit, den gegen sie erhobenen Vorwürfen zu widersprechen: Es kann sein, dass der Strafbefehl nicht (rechtzeitig) zugestellt wird, sodass sie ihre Einspruchsfrist verpassen, oder dass sie aufgrund von Sprachbarrieren oder mangelndem Rechtsbeistand von einem Einspruch absehen. Strafbefehlsverfahren verstoßen gegen die Europäische Charta der Grundrechte sowie gegen EU-Richtlinien über Verfahrensrechte. Das Strafbefehlsverfahren ist ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung des derzeitigen Systems der Massenbestrafung geringfügiger Vergehen. Ohne sie könnte das System nicht so viele Fälle pro Jahr verurteilen. Sie ermöglichen es auch, dass Racial Profiling im Verborgenen bleibt, da viele Fälle nicht vor Gericht gebracht werden, wo diskriminierende Praktiken aufgedeckt werden könnten.

Abschaffung beschleunigter Verfahren: Geringfügige Fälle können auch in so genannten beschleunigten Verfahren verurteilt werden, die den Betroffenen weniger Verfahrensschutz bieten als reguläre Gerichtsverfahren. In einigen Gerichtsbarkeiten bedeutet dies, dass Personen wegen geringfügiger Straftaten in Untersuchungshaft genommen werden, um möglichst schnell verurteilt zu werden. 5Das Schnellverfahren muss abgeschafft werden, da es gegen das deutsche Grundgesetz und die Europäische Grundrechtecharta verstößt.6

Beendigung von Sparmaßnahmen, die migrantisierte und einkommensschwache Communities treffen: Änderungen des Strafrechts und der Strafverfahren sollten mit einem Ende der Sparmaßnahmen wie Sanktionen und anderen Strafmaßnahmen im Sozialleistungssystem, unter anderem der neuen Bezahlkarte, der Verweigerung von Leistungen und/oder des Rechts auf Arbeit für Asylbewerber*innen und andere Neuzuwanderer*innen einhergehen.

Beendigung der Kriminalisierung von Opfern rassistischer Polizeigewalt: Oft werden Opfer von Racial Profiling oder Polizeigewalt mit Anklagen wie Widerstand gegen die Vollstreckungsbeamt*innen oder Körperverletzung kriminalisiert. Diese Anklagen bringen Kritik an rassistischen und gewaltvollen Polizeipraktiken zum Schweigen und haben schwerwiegende Folgen, wenn die beschuldigte Person rassifiziert ist und/oder nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, wie es zum Beispiel bei vielen Menschen, die im Rahmen Palästina-solidarischer Demonstrationen verhaftet werden der Fall ist. Das muss ein Ende haben.

Ausbau polizeilicher Befugnisse gegen migrantisierte Communities stoppen: In letzter Zeit werden Forderungen nach polizeilicher Überwachung und Bestrafung insbesondere junger arabischer Männer, angeblich im Namen der Sicherheit, zunehmend aus politischen Gründen erhoben. Die kürzlich im Bundestag verabschiedete Antisemitismus-Resolution verlagert den Antisemitismus - ein zutiefst deutsches Problem - nach außen und schiebt die Schuld vollständig auf rassifizierte Gemeinschaften. Die daraus resultierende verstärkte polizeiliche Überwachung und Bestrafung dieser Communities trägt zur Dämonisierung dieser Gruppen als Bedrohung bei. Das ständige Nachgeben gegenüber einer "Law-and-Order"-Politik schadet uns allen in einer demokratischen Gesellschaft.



Quellenangaben

  • 1

    Michael Light, "The punishment consequences of lacking national membership in Germany", 1998-2010 (2016) Social Forces, 94(4), S. 1385-1408; Michael Light, "Punishing the 'Others'" (2017) European Journal of Sociology, 58(1), S. 33-71; Jörg Hupfeld, "Richter- und gerichtsbezogene Sanktionsdisparitäten in der deutschen Jugendstrafrechtspraxis" (1999) 82 Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, S. 342-358; Volker Grundies & Michael Light, "Die Sanktionierung der 'Anderen' in der Bundesrepublik" (2014) Risiken der Sicherheitsgesellschaft-Sicherheit, Risiko & Kriminalpolitik, S. 225-239; Christian Pfeiffer et al, "Probleme der Kriminalität bei Migranten und integrationspolitische Konsequenzen", Expertise für den Sachverst5ndigenrat für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat) der Bundesregierung, Kriminologische Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. (2004), S. 72-79.



  • 2

    Eine Studie ergab, dass etwa drei Viertel der Personen, die wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis saßen, Schulden hatten. 95 % hatten ein monatliches Einkommen von weniger als 1.000 Euro und 16 % hatten überhaupt kein Einkommen. Bögelein, Graaff, & Geisler, Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, Verkürzung von Ersatzfreiheitsstrafen in der Justizvollzugsanstalt Köln, FS 1/2021, S.59 - 64.

  • 3

    Das Gesetz enthält keine Maßnahmen zur direkten Verringerung der Zahl der zu Ersatzfreiheitsstrafen Verurteilten. Nach Ansicht der Befürworter könnte das Gesetz die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen verringern, da die Änderung auch bedeutet, dass die Menschen nur halb so viele Sozialstunden ableisten müssen, um ihre Strafe abzusitzen, so dass mehr Menschen dies tun können. Trotz der unterschiedlichen Anzahl von Sozialstunden, die in den einzelnen Bundesländern abgeleistet werden müssen, ist der Anteil der Personen, die ihre Strafe durch Sozialstunden abarbeiten können, nach wie vor sehr gering. Zweitens haben einige Bundesländer, wie z. B. Berlin, als Reaktion auf die Reform die Zahl der erforderlichen Stunden erhöht. https://www.tagesspiegel.de/berlin/gemeinnutzige-arbeit-statt-ersatzfreiheitsstrafe-berliner-senat-erhoht- arbeitszeit-von-vier-auf-sechs-stunden-11278870.html. Für zusätzliche Erklärungen, warum andere Reformen als die Abschaffung die Ungerechtigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe nicht beenden werden, siehe Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, Stellungnahme zum Referentenentwurf von Justizminister Marco Buschmann zur Ersatzfreiheitsstrafe (Oktober 2022), verfügbar unter https://www.justice-collective.org/de/justice-collective-blog/efs-abschaffen-stellungnahme-06-10-22 und Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, FAQ - Geldstrafe und Ersatzfreiheitsstrafe, verfügbar unter https://www.justice-collective.org/de/justice-collective-blog/efs-abschaffen-faq.



  • 4

    Wissenschaftler plädieren seit Jahrzehnten dafür, Diebstahl zu entkriminalisieren, und auch die Friedrich-Ebert-Stiftung hat sich kürzlich für Reformen ausgesprochen. https://strafvollzugsarchiv.de/wp-content/uploads/2022/06/Entruempelung-und-Entkriminalisierung-des-Str afrechts.pdf; Friedrich Ebert Stiftung, Arbeitsgruppe Sanktionenrechts der FES, FES Impuls: Zurück zur Ultima Ratio des Strafrechts: Potenziale zur Entkriminalisierung systematisch prüfen, abrufbar unter https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/20274.pdf (Die Empfehlungen umfassen die Erweiterung des staatsanwaltschaftlichen Ermessensspielraums bei der Einstellung von Fällen geringfügigen Diebstahls und die Verweisung von Einzelhandelsketten an die Privatankläger).

  • 5

    Von den 2.412 Personen, die im beschleunigten Verfahren in Untersuchungshaft genommen wurden, befanden sich 929 Personen in Celle und 656 in Köln, während in Berlin nur 4 Personen in Untersuchungshaft genommen wurden und in den Städten Hamburg und Bremen keine Person in Untersuchungshaft genommen wurde. Statistischer Bericht Strafgerichte 2023, Destatis Statistisches Bundesamt, Justiz und Justizverwaltung, Tabelle csv-24221-04.

  • 6

    Christoph Meertens, ""Kurzer Prozeß" und Hauptverhandlungshaft. Der Weg zum Zweiklassenjusitz im Strafprozeß", 1997, Grundrechte-Report 1997, S. 200-204; >www.humanistische-union.de/publikationen/grundrechte-report/1997/publikation/kurzer-prozess-und-haup tverhandlungshaft-der-weg-zur-zweiklassenjustiz-im-strafprozess/< Zugriff am 02. Oktober 2024; Stefan Soost, "Erste Erfahrungen mit der Hauptverhandlungshaft", Grundrechte-Report 1998, S. 262-266; >www.humanistische-union.de/publikationen/grundrechte-report/1998/publikation/erste-erfahrungen-mit-d er-hauptverhandlungshaft/<; Zugriff am 02. Oktober 2024; Holm Putzke, Beschleunigtes Verfahren bei Heranwachsenden: Zur strafprozessualen Ausprägung des Erziehungsgedankens in der Adoleszenz, 2004, Bochumer Schriften zur Rechtsdogmatik und Kriminalpolitik, Band 1; Prof. Dr. Wolfgang Heinz, Der schöne Schein des Strafrechts, 2010, Konstanzer Inventar Sanktionsforschung (KIS), Universität Konstanz, S. 35-36 <www.uni-konstanz.de/FuF/Jura/heinz/Heinz_Schoener_Schein_StrafR.pdf>; Zugriff am 02. Oktober 2024; Michael Bohlander, Grundsätze des deutschen Strafverfahrens (Hart Publishing 2012), S. 140.