Solidarische Interventionen in rassistische Gewaltsysteme: Polizieren, Strafjustiz und (Massen-) Kriminalisierung
Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP)
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„Die Polizei ist eine Institution, die Gewalt verkörpert und abgeschafft gehört.“
Biplab Basu.
In Memoriam.
Polizeigewalt in Deutschland ist durch eine rassistische und diskriminierende Struktur geprägt. Die zentrale Bedeutung der institutionalisierten Polizeigewalt und des inhärenten Rassismus der Polizeiarbeit wird deutlich, wenn man die Übergriffe betrachtet, denen die Betroffenen ausgesetzt sind. Diese reichen von Racial Profiling, Einschüchterungen und […] Kontrollen bis hin zu institutionalisierten Polizeimorden. Der Einsatz staatlich koordinierter Gewalt wird in der Regel von einem offiziellen politischen Diskurs begleitet, der eine historische Kontinuität von Rassifizierung und Rassismus darstellt. Dadurch werden die Erfahrungen von Menschen, die von der Polizei kriminalisiert, angegriffen und ermordet werden, geleugnet und gerechtfertigt, was mit einer Entmenschlichung einhergeht. Gewalt ist ein integraler Bestandteil der Polizeipraxis und gilt als legitimes Mittel zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung. Dabei findet Gewalt auf verschiedenen Ebenen auch Anwendung im Strafjustizsystem. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte werden als unhinterfragte Instanzen wahrgenommen, die wahrheitsgemäß, objektiv und neutral zu funktionieren scheinen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Wesen des Staates und der politischen, ökonomischen und sozialen Rolle der Gewalt innerhalb der staatlichen Strukturen ist jedoch erforderlich, um die Funtionsweise und Kohäsion des Polizei- und Justizsystems zu verstehen.
Mehr als zwei Jahrzehnte sind inzwischen bereits vergangen, seit sich eine kleine Gruppe von Menschen angesichts der Gewalt durch die deutsche Polizei solidarisch zusammenschloss und die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) in Berlin gründete. Die Initiative wurzelt in der Arbeit der praktischen solidarischen Unterstützung von Betroffenen rassistischer Polizeigewalt und von Communities, die von rassistischer Polizeigewalt betroffen sind, sowie dem Kampf gegen den institutionellen Rassismus im deutschen Polizei- und Justizsystem. Der Rechtshilfefonds von KOP ermöglicht bis heute zahlreichen Betroffenen, sich vor Gericht gegen die machtvolle Position der Polizei zu wehren. Seit ihrer Gründung hat KOP ca. 300 Fälle von Polizeigewalt dokumentiert und darüber hinaus zu einer immensen Vielzahl weiterer Fälle beraten bzw. diese begleitet. Die Wissensgrundlage von KOP sind die konkreten Erfahrungen der Betroffenen mit Polizeigewalt und Polizeipraktiken sowie den Folgen, die sie sowohl auf rechtlicher Ebene (z. B. durch die strafrechtliche Verfolgung) als auch auf persönlicher Ebene, sei es materiell oder psychologisch, erfahren haben. Zudem unterstützt KOP Gerichtsverfahren und organisiert verschiedene Kampagnen und Aktionen, um die Rolle der Polizei im Staat sowie die Rolle der Justiz unter der Prämisse von Objektivität und Neutralität zu hinterfragen und die Perspektive der Betroffenen laut werden und sichtbar zu machen.
Aus der Arbeit all dieser Jahre lassen sich zwei Momente identifizieren, die entscheidend in den Mechanismus des Kreislaufs von Polizieren, Gewalt und Sanktion eingebunden sind. Das erste bezieht sich auf die Aktivierung des polizeilichen Gewaltmechanismus - eine Art „Einfallstor“- : das Racial Profiling. Das zweite Moment bezieht sich darauf, was in den Gerichten passiert: Dort erfahren Betroffene rassistischer Polizeigewalt eine massive Täter-Opfer-Umkehr, da sie als Angeklagte und damit Täter*innen geführt und kriminalisiert werden. Folglich erfahren sie nicht nur Gewalt durch die Polizei, sondern auch durch Akteur*innen der Justiz, der Rechtsauslegung und Umsetzung/Anwendung des deutschen Migrationsregimes.
Racial Profiling als “Tor” zu institutionalisierter Gewalt und Massenkriminalisierung
Racial Profiling bezeichnet Polizeikontrollen ohne konkreten Anlass, die auf der Rassifizierung von Personen aufgrund ihres Aussehens, nationaler oder religiöser Zuschreibungen basieren. Eine derartige Praxis wird von den Polizeibehörden sowie der Bundesregierung wiederholt öffentlich dementiert. Es ist für sie offenbar kein Konflikt, dass politisch vorangetriebene rassistische Begriffe wie „Clankriminalität“ oder „Nafri“ (Polizeijargon für „Nordafrikaner“) in Deutschland von polizeilichen Institutionen, in den Medien und in der bürgerlichen Gesellschaft implementiert, verwendet und normalisiert werden. Obgleich Racial Profiling als diskriminierend und somit als Verstoß gegen Menschen- und Grundrechte definiert wird, findet sich mit der demokratischen Rechtsordnung ein ambivalenter Rahmen, der ermöglicht, dass sowohl mit dem Bundespolizeigesetz, als auch mit einigen Landespolizeigesetzen wie dem Berliner Polizeigesetz, eine Rechtsgrundlage existiert, die Racial Profiling zulässt. Die Polizei weist sogenannte „Gefahrengebiete“ aus, in denen sie anlass- und verdachtsunabhängig kontrollieren darf. Diese Zonen werden auch zu Projektionsflächen politischer Konflikte.
Die realen Erfahrungen der Betroffenen demonstrieren, dass eine signifikante Anzahl von Fällen von Polizeigewalt durch Racial Profiling initiiert werden, das von der Polizei als strategisches Instrument der Kriminalisierung von Personengruppen eingesetzt wird. Racial Profiling ist eine gängige und institutionalisierte Praxis, die auch von verschiedenen Sicherheitskräften wie dem Zoll, der Einwanderungsbehörde oder dem privaten Sicherheitsdienst eingesetzt wird. Die Praxis des Racial Profiling von Migrant:innen, Schwarzen Menschen, PoC, Rom:nja und Sinti:zze sowie Muslim:a ist eine alltägliche Realität an Orten, die unter der Sicherheits- und "Law-and-Order"-Politik errichtet wurden, wie die sogenannten "kriminalitätsbelasteten" bzw. "gefährlichen" Orten, zum Beispiel im Görlitzer Park oder am Hermannplatz, aber auch in Zügen in Grenznähe, auf Bahnhöfen, bei U-Bahn-Fahrkartenkontrollen, Sicherheitskontrollen in Supermärkten, in der Nähe von Schulen, insbesondere in migrantischen Stadtteilen, Gentrifizierungsgebieten etc.
Diese gewalttätige Praxis birgt nicht nur die Möglichkeit der Demütigung, der psychischen Gewalt, der Traumatisierung und Retraumatisierung, sondern auch der öffentlichen Repression, der Performativität rassistischer politischer Diskurse, und der umfassenden Identitätskontrolle durch sog. erkennungsdienstliche Maßnahmen. Sie kann auch zu extremer physischer Gewalt bis hin zur Todesfolge führen, zu falschen polizeilichen Anzeigen, zu strafrechtlichen Verfolgungen, die nicht nur materielle, sondern auch aufenthaltsrechtliche Konsequenzen haben, zur systematischen Verfolgung von Armutsdelikten und zur Kriminalisierung ganzer migrantischer Communities.
Darüber hinaus sind viele der sogenannten „Massendelikte“ wie Bagatelldiebstähle, BtMG-Delikte, Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, Fahren ohne Fahrschein, eine unmittelbare Konsequenz dieser Praxis. Mit der Praxis des Racial Profiling lässt sich eine rassistische Ausrichtung der staatlichen Sicherheitspolitik beobachten, etwa im Kontext des Migrationsregimes und der Abschiebepolitik, des Kampfes gegen den „Terrorismus“ und die „Kriminalität“, der sich gegen auf diese Weise kriminalisierte Minderheiten, prekarisierte und marginalisierte Gruppen richtet, und ihnen systematisch Gewalt zufügt. Maßnahmen, die angeblich zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit und der Verhinderung und Verfolgung von Straftaten notwendig sind, nutzt die Polizei als Rechtfertigung für die Anwendung rassistischer Gewalt. Die polizeiliche Praxis legt somit die gewalttätigen Grundlagen der staatlichen Ordnung offen.
Rassismus und Korpsgeistkultur in den Gerichten
Viele Betroffene rassistischer Polizeigewalt erhalten ohne jegliche Verhandlung einen Strafbefehl vom Gericht mit Anklagen, wie „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, „Tätlicher Angriff“ oder Ähnlichem. Betroffene kommen häufig mit den Anzeigen und den darauffolgenden Strafbefehlen zu KOP. KOP unterstützt die Betroffenen, um gegen den Strafbefehl einen Einspruch zu schreiben, anwaltlich vertreten zu werden und einen Gerichtsprozess zu beginnen. Ein Strafbefehl wird vom Staatsanwalt auf der Grundlage der polizeilichen Ermittlungen beantragt und muss von einem Richter unterzeichnet werden. Dabei handelt es sich um eine strafrechtliche Verurteilung durch das Gericht ohne mündliche Verhandlung. Das Strafbefehlsverfahren ist ein vereinfachtes Verfahren, das bei leichter Kriminalität zum Einsatz kommt. Es kommt nicht selten vor, dass sich nach einem Gerichtsverfahren herausstellt, dass seitens der Polizei kein Verdachtsmoment vorlag oder dass die Polizei gegen polizeiliche Vorschriften verstoßen und dabei die Rechte der Betroffenen nicht respektiert hat. Es gibt viele Fälle, in denen sich nach Akteneinsicht und Bearbeitung der Akte durch Anwält:innen offensichtlich wird, dass die Polizei nicht die Wahrheit gesagt hat und sich widerspricht. Jeder dieser Fälle könnte analysiert werden, um juristisch zu beweisen, dass diese Strafbefehle niemals hätten ausgestellt werden dürfen. Diese Fälle zeigen einerseits die Interaktionskette zwischen der Polizei als Ermittlungsbehörde, der Position der Staatsanwaltschaft, die auf der Grundlage der Ermittlungsakte ein Urteil beantragt, und der Rolle des:der Richter:in, der:die das Urteil diktiert oder unterzeichnet. Andererseits sind sie Teil der Verkettung von Polizeiarbeit, Gewalt und Strafjustiz, die den Einschüchterungs-, Verfolgungs- und Kriminalisierungseffekt verlängert. Den Betroffenen wird psychisch und ökonomisch eine Auseinandersetzung aufgezwungen, die ihr Privatleben massiv beeinträchtigt und ein Strafverfahren bedeutet, das nicht selten bis zu zwei Jahre andauern kann.
In den Prozessen beobachten wir auch einen herabwürdigenden und respektlosen Umgang des:der Richter:in mit den Betroffenen, rassistische Äußerungen bis hin zu Aufforderungen an die Betroffenen, sich in eine ihnen vermeintlich überlegene deutsche Gesellschafts- und Rechtsordnung einzufügen. Die Urteile werden oft als Belehrungen argumentiert, wie im Fall einer alleinerziehenden Mutter und Asylsuchenden, die kriminalisiert und beschuldigt wurde, eine Milch und ein anderes Produkt, das nicht mehr als 3 Euro gekostet hat, gestohlen zu haben. Für dieses geringfügige Delikt wurde sie zu einer Geldstrafe von mehr als 100 Tagessätzen verurteilt. Vor Gericht wurde diese unverhältnismäßige Strafe als „Erziehungsmaßnahme“ inszeniert und mit kriminalisierenden rassistischen Narrativen legitimiert. Es ist fast unmöglich, Richter:innen Befangenheit (d.h. Rassismus) nachzuweisen, da sie an der Spitze der demokratischen Rechtsordnung stehen. Deshalb ist es vor Gericht tabu, die rassistischen Mechanismen der verschiedenen Situationen zu benennen, in denen die von KOP begleiteten Menschen sich befinden, sei es Kontrolle aufgrund von Racial Profiling, Polizeigewalt oder Kriminalisierung. Dieses Tabu ist auch Teil des Diskurses der Verleugnung von Rassismus und der Ignoranz gegenüber der Rolle des Rassismus in allen staatlichen Strukturen und wird von allen Justizakteur:innen, auch Staatsanwält:innen und teilweise Rechtsanwält:innen legitimiert und reproduziert.
Besonders dramatisch ist die Rolle der Polizei vor Gericht. Die Polizei ist Teil des Staatsapparates und ebenso wie Staatsanwält:innen und Richter:innen Teil desselben Strafsystems. Ihre Präsenz und strukturelle Überlegenheit wird nicht nur durch die institutionelle Verkörperung des Gewaltmonopols gewährleistet, sondern auch dadurch, dass sie die Achtung der Rechtsordnung und des Rechtsstaates repräsentiert, wodurch sie eine überlegene, annähernd unantastbare Position vor Gericht einnimmt. Die polizeiliche Ermittlungsakte und die polizeiliche Version/Darstellung beanspruchen vor Gericht absoluten Wahrheitsgehalt. Gleichzeitig ist es aber nicht ungewöhnlich ist, dass Polizeibeamt:innen vor Gericht lügen, sich gegenseitig entlasten, sich absprechen, keine Aussage machen, um sich nicht bloßzustellen, rechtswidrige Gewaltsituationen als rein gruppendynamische Situationen darzustellen oder unverhältnismäßige Gewalt damit rechtfertigen, die Kontrolle über den Einsatz bewahrt haben zu wollen. Es ist offensichtlich, dass zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten, auch wenn sie nicht der gleichen Berufsgruppe angehören, Loyalitäten, ein Zusammenwirken und Konsens besteht.
Für breitere solidarische Interventionen gegen rassistische Polizeigewalt
Zu verstehen, wie Rassismus im Justizapparat, im Besonderen in den Gerichten, umgesetzt wird, ist ein Schritt, der uns die Augen dafür öffnet, dass wir, wenn wir von rassistischer Polizeigewalt sprechen, diese nicht auf Polizeibrutalität oder die strukturelle Asymmetrie von Bestrafung reduzieren, sondern auch als Ableitung aus dem Rechtssystem verstehen. Wenn wir von rassistischer Polizeigewalt sprechen, meinen wir gleichermaßen, dass jede Polizeigewalt rassifiziert und jede Polizeipraxis gewalttätig ist. Es liegt auf der Hand, dass eine Hauptaufgabe der Polizei darin besteht, die am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die relative Überbevölkerung und die vom Staat geschaffenen „inneren Feinde“ zu disziplinieren. Rasse, Geschlecht und andere Unterdrückungskategorien sind übergreifende Faktoren, die sie strukturell durchdringen.
Die massive Verschärfung staatlicher Repression und die Marginalisierung weiterer Bevölkerungsgruppen, bei gleichzeitiger Militarisierung, führen gegenwärtig zu einer Zunahme der Polizeigewalt, zu einer steigenden Zahl von Verhaftungen wegen Armutsdelikten und zur brutalen (strafrechtlichen) Disziplinierung „innerer Feinde“, für die der Staat neue Formen der Kriminalisierung findet. In dieser Situation erscheint es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt und staatlichen Rassismus enger mit anderen Kämpfen verknüpfen können, um Entmenschlichung, Ausbeutung und weit verbreitete staatliche Gewalt endlich abzuschaffen.