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Kriminalisierung von Armut

Überblick: Gerichte kriminalisieren Armut, indem sie massenweise Menschen für Bagatelldelikte bestrafen, die eng mit deren systematisch eingeschränktem Zugang zu Ressourcen in Verbindung stehen – darunter etwa Fahren ohne Fahrschein und Diebstahl notwendiger Gegenstände wie Lebensmittel und Kleidung. Richter*innen zeigen wenig Verständnis für die strukturellen Umstände und finanziellen Notlagen der Betroffenen, denen sie stattdessen sowohl die volle juristische als auch die moralische Verantwortung für kriminalisierte Überlebensstrategien zuschieben. Dadurch setzt sich die systematische Enteignung der Betroffenen fort, indem ihnen existenzgefährdende Geld- oder Haftstrafen auferlegt werden. Aufgrund von Ersatzfreiheitsstrafen sind Haftstrafen zudem auch oft die Folge davon, dass Menschen Geldstrafen nicht bezahlen können. Aus strukturellen Gründen sind migrantisierte und rassifizierte Gruppen besonders anfällig für diesen gesellschaftlichen Prozess der Marginalisierung und Enteignung.

In Deutschland sind derzeit mehr als 14 Millionen Menschen von Armut betroffen – eine Zahl, die in den letzten zwei Jahrzehnten enorm angestiegen ist.1 Das bedeutet, dass 1 von 6 Personen ein erhöhtes Risiko hat, kriminalisiert zu werden. Untersuchungen legen nahe, dass in mehr als 40 % aller mit Geldstrafen belegten Fälle in Deutschland Menschen für ein Vergehen bestraft werden, das mit Armut in Verbindung steht.2 Davon betroffen sind beispielsweise Menschen, die wegen Diebstahls von Gütern des täglichen Bedarfs kriminalisiert werden, oder weil sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, obwohl sie nicht genug Geld haben, sich eine Fahrkarte zu kaufen. Häufig steht diese Kriminalisierung mit diskriminierenden Fahndungsmethoden der Polizei oder privater Security-Firmen in Verbindung. So geraten zum Beispiel wohnungslose Menschen aufgrund von Bagatelldelikten besonders ins Visier der Polizei, was zur Folge hat, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit kriminalisiert werden. Gleichzeitig spiegelt diese Kriminalisierung aber auch die immanente Ungleichheit des Rechts in einer durch wirtschaftliche Ungleichheit strukturierten Gesellschaft wider. Der französische Schriftsteller Anatole France schrieb diesbezüglich einst eindrücklich von „der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.3

Wenn jemand eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, landet die betroffene Person im Gefängnis. Diese Strafpraxis nennt sich Ersatzfreiheitsstrafe und sollte aus unserer Sicht komplett abgeschafft werden. Zwar ist es theoretisch möglich, die Umwandlung einer Geld- in eine Haftstrafe abzuwenden (zum Beispiel, indem Betroffene unbezahlte Arbeit leisten); dennoch zeigt sich bei der Ersatzfreiheitsstrafe, dass vermeintlich neutrale Gesetze sich unterschiedlich auf Menschen auswirken, je nachdem, wie sie wirtschaftlich und gesellschaftlich positioniert sind. Dazu kommt, dass viele Menschen, die Probleme damit haben, eine Geldstrafe zu bezahlen, aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten können, beispielsweise aufgrund von Erkrankungen oder anderweitig schwierigen Lebenslagen.4 Obwohl die Regierung seit 2003 keine offiziellen Daten mehr veröffentlicht, schätzen Expert*innen, dass jedes Jahr mehr als 50.000 Menschen in Deutschland ins Gefängnis müssen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können.5

In anderen Fällen funktioniert die Kriminalisierung von Armut auf indirektem Weg. Wenn zum Beispiel gesetzliche Vorschriften Menschen davon abhalten, eine Arbeitserlaubnis zu erlangen (wie es oft etwa für Asylbewerber*innen der Fall ist), haben Betroffene oft keine andere Wahl, als auf kriminalisierte Erwerbsmethoden wie bspw. Drogenverkauf zurückzugreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Durch die jüngsten Reformen des Asylbewerberleistungsgesetzes wurde zudem die so genannte Bezahlkarte eingeführt, die dafür sorgt, dass Asylbewerber*innen nur noch 50 € Bargeld im Monat zur Verfügung stehen, was es ihnen z.B. unmöglich macht, Anwaltskosten zu bezahlen.6 Allgemeiner ausgedrückt wirkt sich Rassifizierung auf die Verteilung materieller Ressourcen auf globaler Ebene aus, was sich auch auf lokaler Ebene widerspiegelt: Neue Untersuchungen belegen empirisch, dass rassistisch markierte Personen in Deutschland eher von Armut betroffen sind, als nicht rassistisch markierte Personen.7 Dabei hängt die Kriminalisierung von Armut nicht nur mit Rassismus zusammen, sondern auch mit Gender: FLINTA* sind mit größerer Wahrscheinlichkeit von Armut betroffen als Männer. Expert*innen sprechen daher seit Jahrzehnten auch von der „Feminisierung der Armut“. 8Wir sehen also, wie ineinandergreifende Systeme sozialer Herrschaft – darunter Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus, aber auch etwa Ableismus – Einfluss darauf haben, wer wegen armutsbezogener Vergehen kriminalisiert wird.

Unsere Prozessbeobachtungen legen offen, wie Strafgerichte routinemäßig Menschen dafür bestrafen, dass sie armutsbetroffen sind.9 Immer und immer wieder sehen wir, wie Betroffene mit hohen Geldstrafen etwa für den Diebstahl geringwertiger, aber notwendiger Gegenstände wie Nahrung und Kleidung, für das Fahren ohne gültigen Fahrschein, oder für andere Vergehen, die direkt oder indirekt mit Armut in Verbindung stehen, belangt werden.10 Solche hohen Geldstrafen tragen dazu bei, dass sich die ungleiche Verteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft weiter verfestigt und Menschen in prekären Lebensumständen zusätzlich prekarisiert werden. Richter*innen zeigen wenig bis kein Verständnis für die strukturellen Umstände der Betroffenen und äußern sich oft moralisierend, wobei sie Betroffenen die volle Verantwortung für ihre jeweilige Lage zuschieben, als wären diese freiwillig arm.11 Damit lenken sie von den wahren Gründen ab, weshalb viele armutsbetroffene Menschen vor Gericht landen und bestraft werden: die ungleiche Verteilung von Ressourcen, auf die der Kapitalismus aufbaut und die eng mit Rassismus verschränkt ist.

Wie zahlreiche Sozial- und Politikwissenschaftler*innen deutlich gemacht haben, erfüllen Kriminalisierung und Bestrafung im neoliberalen Kapitalismus wichtige Funktionen staatlicher Regulierung, da sie als Reaktion auf soziale Unsicherheit und als Mittel zur Krisenbewältigung dienen.12 Bestrafung bietet eine scheinbar einfache (und relativ billige) Auffanglösung für die Kontrolle und Disziplinierung der wachsenden Zahl sozial und wirtschaftlich marginalisierter Bevölkerungsgruppen in einem zunehmend stratifizierten System.13 Auch wenn in Deutschland der neoliberale Umbau des Staates langsamer vorangeschritten ist als etwa in den USA und Großbritannien, wird Strafe dennoch zunehmend als Instrument zur vermeintlichen Bewältigung von Problemen eingesetzt, die mit der wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit zusammenhängen, wie etwa im Fall der Ersatzfreiheitsstrafe.14 Darüber hinaus nahm das deutsche Sozialsystem im Zuge der Hartz-Reformen eine Wende hin zu Bestrafung und Sanktionierung, die sich im neuen System des Bürgergeldes weiter verfestigt hat, wie Organisationen wie Sanktionsfrei immer wieder betonen.

Vor diesem Kontext ist es umso wichtiger, zu erkennen, dass Strafgerichte in Deutschland mit großer Routine armutsbetroffene Menschen für ihre Überlebensstrategien bestrafen. Dies ist das Ergebnis eines zusammenhängenden Systems, das in erster Linie diejenigen isoliert, enteignet, vertreibt, überwacht, poliziert und bestraft, die keinen nennenswerten Wert für das System produzieren und somit strukturell überflüssig gemacht sind. Prozessbeobachtung als Strategie dient dazu, dieses System aufzudecken, der Isolation entgegenzuwirken und Macht aufzubauen, um sich dagegen organisiert zur Wehr zu setzen.

Quellenangaben

Fälle aus unserem Archiv

Fall 7

Ein junger Mann, der noch alte Geldstrafen abbezahlt, wird wegen des Diebstahls eines Sandwiches und einer Schokolade zu einer Geldstrafe von 600 € verurteilt. Obwohl das Gericht finanzielle Not als Motiv anerkennt, betont die Richterin, Diebstahl sei „keine Lösung“.

Criminalizing Poverty
Fine
Theft

Fall 5

Ein Mann wird zu 140 Tagessätzen à 15 € für einen Diebstahl von Lebensmitteln im Wert von unter 5 € verurteilt. Als Bürgergeldempfänger entspricht dieser Tagessatz fast dem Gesamtbetrag, der ihm täglich zur Verfügung steht. Die Richterin hält die harte Strafe im Hinblick auf die Vorstrafen des Angeklagten für notwendig.

Criminalizing Poverty
Fine
Theft

Fall 1

Eine Frau mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus und fehlender Arbeitserlaubnis wird in einem beschleunigten Verfahren wegen dreimaligen Fahrens ohne Fahrschein verurteilt. Trotz ihrer finanziellen Nöte und der Tatsache, dass sie keinen Rechtsbeistand hat, verhängt das Gericht eine hohe Geldstrafe. Die Frau wird wiederholt dazu befragt, warum sie nach Deutschland gekommen sei und sich in Deutschland aufhalte, was für die Urteilsfindung rechtlich nicht relevant ist.

Enforcing Borders
Criminalizing Poverty
Fine
Fare Evasion

Fall 9

Ein Mann ist beschuldigt, einen Mitarbeiter des Jobcenters am Telefon beleidigt zu haben und wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Während der Verhandlung ist die Richterin mit ihm ungeduldig. Sie drängt ihn, die Anweisungen des Jobcenters zu befolgen, und zeigt kein Verständnis dafür, dass jemand, der auf Sozialleistungen angewiesen ist, frustriert mit dieser Institution sein könnte.

Criminalizing Poverty
Fine
Other Offenses

Perspektiven