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Zusammenfassung

Ein junger, migrantisierter Mann sitzt vier Monate in U-Haft. Er gesteht, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug gestohlen zu haben und wird dafür verurteilt. Der Richter verhängt eine Freiheitsstrafe in Höhe der bereits verbüßten Zeit, wodurch sich offenbar die Möglichkeit einer Haftentschädigung für den Mann erübrigt.

Kommentar

Die schiere Unverhältnismäßigkeit der verhängten Strafe gehört zu den schlimmsten, die wir bisher beobachtet haben. Selbst gemessen an geltendem Recht weist der Fall schwere Ungerechtigkeiten auf. Zudem sind die Erfahrungen des Betroffenen auch von systemischen Faktoren geprägt, darunter seine Migrationserfahrung sowie dass er von Armut und Suchterkrankungen betroffen ist.

Der angeklagte Mann wird aufgrund fadenscheiniger Anschuldigungen eine sehr lange Zeit – vier Monate – in Untersuchungshaft gesperrt. Letztendlich wird er nur wegen des Diebstahls von Zigaretten und eines Feuerzeugs schuldig gesprochen. Wie wir in der Verhandlung erfahren, kam der Mann wahrscheinlich in U-Haft, weil das Gericht annahm, dass er keinen festen Wohnsitz habe und daher eine Fluchtgefahr bestehe (obwohl er dem Gericht eine Adresse nannte). U-Haft wird unverhältnismäßig oft auf so einer dünnen Grundlage gegen nichtdeutsche Staatsangehörige verhängt. Das verstößt gegen das Gesetz, das für die Anordnung einer U-Haft konkrete Anhaltspunkte verlangt, weshalb von einer Fluchtgefahr auszugehen wäre.

Die Anordnung einer U-Haft erfordert eigentlich auch, dass die beschuldigte Person einer Tat „dringend verdächtig“ ist. In diesem Fall fallen die Anschuldigungen gegen den Mann schnell in sich zusammen, was besonders eklatant ist. Er wird wegen zweifachen Diebstahls (darunter ein Versuch) mit einer Waffe beschuldigt. Jedoch wird deutlich, dass das Messer, das der Mann in beiden Fällen in seinem Rucksack hatte, zu den angeblichen Tatzeitpunkten nicht zugänglich war, sodass juristisch gesehen auch kein Diebstahl mit Waffen vorlag. Die Anklage wegen versuchten Diebstahl mit Waffe wird fallen gelassen, weil der geladene Polizeizeuge nicht genug gesehen hat, um einen Diebstahl anzunehmen. Schließlich wird der der Mann wegen geringfügigen Diebstahls von Zigaretten in Höhe von 6,50 € zu vier Monaten Gefängnisstrafe verurteilt, weil er ein Geständnis ablegt – ob er es wirklich getan hat oder ob er lediglich den Prozess zu Ende bringen wollte, wissen wir nicht.

Das Strafsystem sorgt dafür, dass diese Person auf dünner Beweisgrundlage hart bestraft wird und es gibt kaum rechtlichen Schutz dagegen. Angeblich neutrale Gesetze, die zum Beispiel die Anordnung von U-Haft regeln, werden in der Praxis so angewandt, dass sie sich ungleich schwerer auf von Rassismus betroffene Menschen auswirken.

Bericht

Zu Beginn der Verhandlung werden zunächst einige biografische Details besprochen. Wir erfahren, dass der Beschuldigte migrantisiert ist und seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Seit vier Monaten ist er in Untersuchungshaft und es ist unklar, ob er einen festen Wohnsitz hat. Er gibt die Adresse seines Kindes und dessen Mutter an, doch sein Anwalt sagt, er habe keine Adresse.

Dem Mann werden zwei Fälle von Diebstahl mit einer Waffe vorgeworfen. Sein Anwalt erklärt zunächst, dass sein Mandant die Taten zugebe und dass er gestohlen habe, weil er Geld brauchte, um seine Suchterkrankung zu finanzieren. Der Angeklagte ergänzt, er habe nach einem Todesfall in der Familie mit dem Drogenkonsum begonnen und dass er auch unter psychischen Erkrankungen leide.

Im ersten Fall geht es um einen versuchten Diebstahl. Der Mann soll versucht haben, in die Tasche einer anderen Person zu greifen, habe sich dann aber zurückgezogen, als er Polizeisirenen hörte. Die Anklage erhebt den Vorwurf eines Diebstahl mit einer Waffe, da ein Messer in der Tasche des Mannes gefunden wurde. Allerdings erklärt der Anwalt, dass sein Mandant zu dieser Zeit wohnungslos war und daher seinen gesamten Besitz, mit sich führen musste. Das Gericht ruft einen Polizeizeugen auf, der aussagt, er könne nicht mit Sicherheit sagen, ob er tatsächlich einen Diebstahlversuch gesehen habe. Er saß nämlich zu der Zeit am Autosteuer und habe versucht, sich auf die Straße zu konzentrieren. Daraufhin lässt das Gericht diesen Vorwurf fallen. Für den zweiten Vorwurf werden keine Zeugen geladen und das Gericht verurteilt den Angeklagten lediglich aufgrund seines eigenen Geständnisses.

In ihren Erklärungen zum Urteil räumen sowohl der Richter als auch die Staatsanwaltschaft ein, dass der Tatbestand eines Diebstahls mit einer Waffe nicht erfüllt ist. Die Staatsanwaltschaft beantragt eine Geldstrafe, die zu einer Haftstrafe umzuwandeln wäre (vermutlich, weil der Mann bereits Zeit im Gefängnis verbrachte). Gegen ihn wird angeführt, dass er vorbestraft ist, und für ihn der mildernde Umstand, dass er zu dem Tatzeitpunkt drogenabhängig war und dass nichts Wertvolles gestohlen wurde. Sein Anwalt wiederholt dieselben Argumente und verweist darauf, dass sein Mandant vor der Verhandlung zu Unrecht in U-Haft war. Der Richter verurteilt den Mann zu einer viermonatigen Haftstrafe, die er bereits verbüßt hat.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 23

Eine Frau kommt für eine medizinische Behandlung nach Deutschland. Ihre Familie sammelt mehrere tausend Euro, damit sie die Kosten vorab bezahlen und dadurch ein Visum erhalten kann. Eine deutsche Behörde beschuldigt sie der Ausweisfälschung. Obwohl die Staatsanwaltschaft einräumt, dass der Angeklagten keine Täuschungsabsicht nachzuweisen ist und einen Freispruch fordert, verurteilt das Gericht sie zu einer hohen Geldstrafe und setzt somit ihren Aufenthalt in Deutschland und ihre Gesundheit aufs Spiel.

Strafe als Grenzmechanismus
Geldstrafe
Betrug

Fall 22

Ein Mann wird monatelang in U-Haft gehalten und für den Verkauf von Cannabis zu einer Geldstrafe von mehreren tausend Euro verurteilt. Obwohl zum Zeitpunkt der Verhandlung Cannabiskonsum und zum Teil auch -besitz und -handel kurz vor der Legalisierung bzw. Entkriminalisierung stehen, verurteilt das Gericht das Vorgehen des Angeklagten scharf. Der Staatsanwalt bezeichnet dieses als „extrem verwerflich“.

Strafe als Grenzmechanismus
Geldstrafe
Verstoß gegen BtMG

Fall 21

Das Gericht übt Druck auf einen Mann aus, seine Berufung gegen eine Verurteilung wegen Widerstands und Angriffs auf Vollstreckungsbeamte zurückzuziehen. Obwohl das Verfahren den Mann sichtlich belastet, scheint der Richter nicht an seinen Schilderungen des Vorfalls interessiert zu sein. Dass es in dem Verfahren keine Entlastung für den Mann geben wird, wirkt sowohl seitens des Gerichts als auch seiner Verteidigung bereits vorherbestimmt.

Rassistisches Polizieren
Sonstige
Körperverletzung
Sonstige

Fall 20

Drei junge Männer werden wegen Diebstahls vom Schnellgericht vorgeladen. Da das Gericht für einen von ihnen keine*n Dolmetscher*in geladen hat, wird er nicht angehört. Stattdessen erhält er per Post einen Strafbefehl. Die beiden anderen Personen werden nach einer kurzen Anhörung zu je 600 € Geldstrafe verurteilt.

Strafe als Grenzmechanismus
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven

Collage of: politicians holding report, police, and an arrow/graph.

Die polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet

Justice Collective, Grundrechtekomitee und 40 weitere

Wissenschaftler*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft warnen vor der politisierten Nutzung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, die jedes Jahr dafür genutzt wird, falsche Narrative über steigende Kriminalität und vermeintlich „kriminelle Migrant*innen“ zu verbreiten. Die Unterzeichnenden stellen das durch das BKA und die Medien gezeichnete statistische Bild entschieden in Frage und betonen, dass die PKS zur Polarisierung der Gesellschaft und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beiträgt.

Rassistisches Polizieren
Picture of Berlin criminal court.

Rassimus vor Gericht dokumentieren: Interview mit Justizwatch

Justizwatch

Ein Interview mit Justizwatch über ihre Arbeit zur Dokumentation von Rassismus vor Gericht in Berlin.

Rassistisches Polizieren
image Solidarity is a Weapon, KOP

Solidarische Interventionen in rassistische Gewaltsysteme: Polizieren, Strafjustiz und (Massen-) Kriminalisierung

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP)

Die Verschärfung staatlicher Repression, Marginalisierung und Militarisierung führt gegenwärtig zu einer Zunahme der Polizeigewalt, zu einer steigenden Zahl von Verhaftungen wegen Armutsdelikten und zur brutalen (strafrechtlichen) Disziplinierung „innerer Feinde“. In dieser Situation erscheint es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt und staatlichen Rassismus enger mit anderen Kämpfen verknüpfen können, um Entmenschlichung, Ausbeutung und weit verbreitete staatliche Gewalt endlich abzuschaffen.

Rassistisches Polizieren