Fall 3
Fallnummer | 3 |
Anklage | Diebstahl |
Verteidigung anwesend | Ja |
Übersetzung anwesend | Ja |
Rassifizierte Person | Ja |
Ausgang | Haftstrafe |
Ein junger, migrantisierter Mann sitzt vier Monate in U-Haft. Er gesteht, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug gestohlen zu haben und wird dafür verurteilt. Der Richter verhängt eine Freiheitsstrafe in Höhe der bereits verbüßten Zeit, wodurch sich offenbar die Möglichkeit einer Haftentschädigung für den Mann erübrigt.
Die schiere Unverhältnismäßigkeit der verhängten Strafe gehört zu den schlimmsten, die wir bisher beobachtet haben. Selbst gemessen an geltendem Recht weist der Fall schwere Ungerechtigkeiten auf. Zudem sind die Erfahrungen des Betroffenen auch von systemischen Faktoren geprägt, darunter seine Migrationserfahrung sowie dass er von Armut und Suchterkrankungen betroffen ist.
Der angeklagte Mann wird aufgrund fadenscheiniger Anschuldigungen eine sehr lange Zeit – vier Monate – in Untersuchungshaft gesperrt. Letztendlich wird er nur wegen des Diebstahls von Zigaretten und eines Feuerzeugs schuldig gesprochen. Wie wir in der Verhandlung erfahren, kam der Mann wahrscheinlich in U-Haft, weil das Gericht annahm, dass er keinen festen Wohnsitz habe und daher eine Fluchtgefahr bestehe (obwohl er dem Gericht eine Adresse nannte). U-Haft wird unverhältnismäßig oft auf so einer dünnen Grundlage gegen nichtdeutsche Staatsangehörige verhängt. Das verstößt gegen das Gesetz, das für die Anordnung einer U-Haft konkrete Anhaltspunkte verlangt, weshalb von einer Fluchtgefahr auszugehen wäre.
Die Anordnung einer U-Haft erfordert eigentlich auch, dass die beschuldigte Person einer Tat „dringend verdächtig“ ist. In diesem Fall fallen die Anschuldigungen gegen den Mann schnell in sich zusammen, was besonders eklatant ist. Er wird wegen zweifachen Diebstahls (darunter ein Versuch) mit einer Waffe beschuldigt. Jedoch wird deutlich, dass das Messer, das der Mann in beiden Fällen in seinem Rucksack hatte, zu den angeblichen Tatzeitpunkten nicht zugänglich war, sodass juristisch gesehen auch kein Diebstahl mit Waffen vorlag. Die Anklage wegen versuchten Diebstahl mit Waffe wird fallen gelassen, weil der geladene Polizeizeuge nicht genug gesehen hat, um einen Diebstahl anzunehmen. Schließlich wird der der Mann wegen geringfügigen Diebstahls von Zigaretten in Höhe von 6,50 € zu vier Monaten Gefängnisstrafe verurteilt, weil er ein Geständnis ablegt – ob er es wirklich getan hat oder ob er lediglich den Prozess zu Ende bringen wollte, wissen wir nicht.
Das Strafsystem sorgt dafür, dass diese Person auf dünner Beweisgrundlage hart bestraft wird und es gibt kaum rechtlichen Schutz dagegen. Angeblich neutrale Gesetze, die zum Beispiel die Anordnung von U-Haft regeln, werden in der Praxis so angewandt, dass sie sich ungleich schwerer auf von Rassismus betroffene Menschen auswirken.
Zu Beginn der Verhandlung werden zunächst einige biografische Details besprochen. Wir erfahren, dass der Beschuldigte migrantisiert ist und seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Seit vier Monaten ist er in Untersuchungshaft und es ist unklar, ob er einen festen Wohnsitz hat. Er gibt die Adresse seines Kindes und dessen Mutter an, doch sein Anwalt sagt, er habe keine Adresse.
Dem Mann werden zwei Fälle von Diebstahl mit einer Waffe vorgeworfen. Sein Anwalt erklärt zunächst, dass sein Mandant die Taten zugebe und dass er gestohlen habe, weil er Geld brauchte, um seine Suchterkrankung zu finanzieren. Der Angeklagte ergänzt, er habe nach einem Todesfall in der Familie mit dem Drogenkonsum begonnen und dass er auch unter psychischen Erkrankungen leide.
Im ersten Fall geht es um einen versuchten Diebstahl. Der Mann soll versucht haben, in die Tasche einer anderen Person zu greifen, habe sich dann aber zurückgezogen, als er Polizeisirenen hörte. Die Anklage erhebt den Vorwurf eines Diebstahl mit einer Waffe, da ein Messer in der Tasche des Mannes gefunden wurde. Allerdings erklärt der Anwalt, dass sein Mandant zu dieser Zeit wohnungslos war und daher seinen gesamten Besitz, mit sich führen musste. Das Gericht ruft einen Polizeizeugen auf, der aussagt, er könne nicht mit Sicherheit sagen, ob er tatsächlich einen Diebstahlversuch gesehen habe. Er saß nämlich zu der Zeit am Autosteuer und habe versucht, sich auf die Straße zu konzentrieren. Daraufhin lässt das Gericht diesen Vorwurf fallen. Für den zweiten Vorwurf werden keine Zeugen geladen und das Gericht verurteilt den Angeklagten lediglich aufgrund seines eigenen Geständnisses.
In ihren Erklärungen zum Urteil räumen sowohl der Richter als auch die Staatsanwaltschaft ein, dass der Tatbestand eines Diebstahls mit einer Waffe nicht erfüllt ist. Die Staatsanwaltschaft beantragt eine Geldstrafe, die zu einer Haftstrafe umzuwandeln wäre (vermutlich, weil der Mann bereits Zeit im Gefängnis verbrachte). Gegen ihn wird angeführt, dass er vorbestraft ist, und für ihn der mildernde Umstand, dass er zu dem Tatzeitpunkt drogenabhängig war und dass nichts Wertvolles gestohlen wurde. Sein Anwalt wiederholt dieselben Argumente und verweist darauf, dass sein Mandant vor der Verhandlung zu Unrecht in U-Haft war. Der Richter verurteilt den Mann zu einer viermonatigen Haftstrafe, die er bereits verbüßt hat.