Fall 17
Fallnummer | 17 |
Anklage | Diebstahl |
Verteidigung anwesend | Nein |
Übersetzung anwesend | Ja |
Rassifizierte Person | Ja |
Ausgang | Geldstrafe |
Das Gericht verurteilt eine ältere Frau wegen geringfügigen Diebstahls in einem Supermarkt zu einer hohen Geldstrafe. Als das Urteil verkündet wird, treten Sicherheitskräfte an die Frau heran und nehmen sie fest. Gegen sie liegt ein Haftbefehl vor, da sie eine Geldstrafe aus einem früheren Fall nicht bezahlt hat; sie soll umgehend ins Gefängnis gebracht werden.
Die Atmosphäre im Gerichtssaal ist von Anfang an angespannt. Unsere Beobachter*innen bemerken zwar, dass zusätzliche Sicherheitskräfte im Raum sind, verstehen aber zunächst nicht, warum. Die angeklagte Person hatte keine Anwält*in, was normalerweise bedeutet, dass sie nicht mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen hat.
Der Prozess führt die Gewalt des Strafsystems auf brutale Weise vor Augen. Das bemerken wir vor allem, als uns klar wird, dass die Behörden im Saal die ganze Zeit wussten, dass die Frau in Handschellen abgeführt und ins Gefängnis gebracht werden sollte. Die Richterin verhängt das Urteil in dem Wissen, dass die Frau wahrscheinlich auch für diesen Fall ins Gefängnis gehen wird, da sie ihre Geldstrafe nicht bezahlen kann.
In diesem Fall kann Justice Collective intervenieren und die Geldstrafe und Gerichtskosten zahlen, wodurch eine Haftstrafe vermieden wird. Während wir fast zwei Stunden damit beschäftigt sind, Formulare herauszusuchen und auszufüllen, wird die Frau ohne Übersetzer*in von der Polizei festgehalten.
Eine ältere Frau erscheint zu ihrer Anhörung, während ihr erwachsener Sohn im Publikumsbereich sitzt. Sie ist vor einigen Jahren nach Deutschland gezogen und gibt an, von Sozialleistungen zu leben. Ihr wird vorgeworfen, etwas aus einem Supermarkt gestohlen zu haben. Die Anhörung findet ohne Anwält*in statt, und der Übersetzer übersetzt nur abschnittsweise.
Zu Beginn fragt die Richterin die Frau, wie man ihren Namen buchstabiert („manchmal bekommen wir Aliasse“), ob sie Deutsch lerne, und warum sie nach Deutschland gekommen sei. Auf ihre Antwort, dass sie vor häuslicher Gewalt geflüchtet sei, erwidert die Richterin, dies sei kein legitimer Grund, um nach Deutschland zu flüchten. (Die Behauptung der Richterin ist falsch. Einige Zeit vor diesem Verfahren stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass geschlechtsspezifische Gewalt in der Tat zu asylrechtlichem Schutz führen kann.)
Als die Anhörung zu den Vorwürfen übergeht, gesteht die Angeklagte, die Gegenstände genommen zu haben. Sie erklärt, dass sie zu dem Zeitpunkt in keinem guten mentalen Zustand war und dass sie sich nicht daran erinnern kann, was genau passiert ist, aber nicht vorhatte zu stehlen. Sie versichert der Richterin, dass so etwas nicht noch einmal passieren wird.
Die Richterin verhängt eine Geldstrafe von fast 1.000 €, deutlich höher als die vom Staatsanwalt geforderte Summe. Zur Begründung erklärt die Richterin, dass sie nicht glaube, dass die Frau für das Vergehen ausreichend Verantwortung übernommen habe.
Es kommt zu Verwirrung, als die Richterin die Frau fragt, ob sie Einspruch gegen das Urteil einlegen möchte und diese scheinbar „Ja” antwortet, wobei unklar ist, ob der Übersetzer die Frage vollständig übersetzt hat. Der Sohn der Frau interveniert aus dem Zuschauerraum, um ihr zu erklären, was sie gefragt worden ist, und legt ihr nahe, dass sie keinen Einspruch einlegen sollte.
Während dieser Interaktion informiert die Richterin die Angeklagte darüber, dass sie heute nicht nach Hause gehen darf. Sie hat ihre Geldstrafe aus einer früheren Straftat sowie die Gerichtskosten noch nicht vollständig bezahlt und muss mit einer Ersatzfreiheitsstrafe von fast einem Monat rechnen. Sicherheitskräfte treten an die Frau heran, um sie festzunehmen. Der Dolmetscher hat wieder nicht vollständig übersetzt, was gesagt wurde, sodass die Frau sichtlich verwirrt und sehr besorgt ist.